Fachaufsatz (unredigierte Rohfassung)

veröffentlicht in: "Die Bayerische Polizei" und "Polizeinachrichten" (beide erschienen im Polizei-Verlag Heinz Krause, Nürnberg), jeweils Heft 10-11-12/2002, S. 8 ff.

Autor: Prof. Dr. jur. Dieter Müller, Institut für Verkehrsrecht und Verkehrsverhalten Bautzen (IVVB)

Hintergrundwissen zum Unfallrisiko "ungenügender Sicherheitsabstand"

von Prof. Dr. jur. Dieter Müller, Fachhochschule für Polizei Sachsen [1]

 

1. Der Sicherheitsabstand als faktisches Beziehungsverhältnis

Eine bedeutende Ursache für Verkehrsunfälle bildet ein zu gering bemessener Sicherheitsabstand zwischen zwei Fahrzeugen. Indem der Sicherheitsabstand unterschritten wird, nimmt sich der betreffende Fahrer des nachfolgenden Fahrzeugs bei für ihn unerwarteten oder unorthodoxen Bremsmanövern seines Vordermannes zwangsläufig einen Teil seiner bei eingehaltenem Sicherheitsabstand um einige Sekunden bzw. Sekundenbruchteile längeren Reaktionszeit.

Der Abstand sagt also immer auch etwas aus über eine Beziehung zwischen zwei Fahrzeugführern, die in einem bestimmten verkehrsbezogenen Verhältnis zueinander stehen.

Beide Fahrzeugführer haben ein grundsätzliches Interesse am individuellen ungehinderten Fortkommen im Straßenverkehr und können sich gegenseitig - je nach der konkreten Handlungsweise im Einzelfall - in ihrem Fahrverhalten positiv wie auch negativ beeinflussen. Somit ergibt sich zwischen diesen beiden Verkehrsteilnehmern ein Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeiten, dessen Stabilität in Richtung auf die Komponente der Verkehrssicherheit immer dann potenziell gefährdet ist, wenn einer der beiden Fahrer Fehler begeht und von Sicherheitsnormen abweicht.

Entscheidend für das Grundverständnis dieses Beziehungsverhältnisses ist allerdings die Tatsache, welcher von beiden Fahrzeugführern vorne und welcher hinten fährt. Aus dieser subjektiven Sichtweise des Vorausfahrenden oder Hinterherfahrenden erscheint der jeweils andere Fahrzeugführer nicht selten entweder als "Bummler" oder als "Drängler", dessen jeweilige Fahrweise dann auch folgerichtig oft als Provokation empfunden wird. Nehmen die im Straßenverkehr gelebten Emotionen dann überhand, kommt es leicht zu Reaktionen auf die Fahrweise des anderen Fahrzeugführers, die je nach Fahrposition aus Bremsvorgängen oder noch dichterem Auffahren bestehen können, wobei die jeweiligen Zielrichtungen auf die Beeinflussung des Fahrstiles des anderen gerichtet sind.

2. Das Abstandsverhalten bei Fahrzeugführern

Messungen zum Abstandsverhalten werden nahezu ausschließlich auf Autobahnen vorgenommen. Aus einer vergleichenden Untersuchung des Abstandsverhaltens auf

Autobahnen außerhalb von Ballungsräumen ergab sich die nahe liegende Erkenntnis, dass Autofahrer dort mit einer steigenden Verkehrsdichte versuchen, ihr Fahrtempo beizubehalten und dieses Verkehrsverhalten auf Kosten niedrigerer Sicherheitsabstände geschieht (Ellinghaus/Steinbrecher, Uniroyal-Verkehrsuntersuchung Nr. 25 "Verfall der Sitten", S. 115 f.) [2].

Über das Abstandsverhalten im innerstädtischen Raum bzw. auf außerörtlichen Straßen liegen keine Untersuchungen vor, obwohl die Frage reduzierter Sicherheitsabstände keineswegs auf Bundesautobahnen beschränkt sein dürfte.

Als ein Manko in der präventiven Verkehrssicherheitsarbeit ist auch die Tatsache zu bewerten, dass es für die Messung des Abstandsverhaltens derzeit kein der Verkehrsaufklärung bei Geschwindigkeiten vergleichbares Verfahren gibt (vgl. dazu die entsprechende Verkehrssicherheitsarbeit bei der Unfallursache "nicht angepasste Geschwindigkeit" der Verkehrswacht Dortmund, dokumentiert in PVT 1996, S. 367 f.) [3]. Denkbar und sicherlich technisch möglich wäre es, die Autofahrer auch hinsichtlich des an den Tag gelegten Abstandsverhaltens auf fehlerhaft kalkulierte Sicherheitsabstände mittels elektronischer Warntafeln hinzuweisen (etwa mit dem Hinweis: "Aktueller Abstand = 5 Meter! Sicherheitsabstand = 10 Meter!").

Es ist grundsätzlich beklagenswert, dass der größte Teil der Autofahrer nach dem Zeitpunkt des Erwerbs der Fahrerlaubnis während und nach ihrer fahrerischen Tätigkeit nahezu keine Rückmeldungen über die Qualität ihrer tagtäglichen Verkehrsteilnahme erhält. Auf diese Weise bleiben Lern- und Korrekturpotenziale, die zweifellos bei einigen Verkehrsteilnehmern vorhanden sind, vollkommen ungenutzt.

Derzeit erfahren Autofahrer von ihrem eigenen Fehlverhalten lediglich im Rahmen von polizeilichen und kommunalen Verkehrskontrollen bzw. in deren Nachgang in Form der Bearbeitung von Bußgeldanzeigen. Die fraglos pädagogisch wertvollen Möglichkeiten der Polizei, im Rahmen von Anhaltekontrollen in einem Gespräch belehrend auf fehlerhaftes Verhalten zu reagieren scheitern oftmals infolge mangelnder personeller Kapazitäten.

3. Der Schutzzweck des § 4 StVO

In dem vorgenannten Sinne ist es Aufgabe und Zielsetzung einer Verhaltensvorschrift, die diese Beziehung zwischen zwei in unmittelbarer örtlicher Nähe den Verkehrsraum nutzenden Verkehrsteilnehmern regelt, dass die spezifischen Sicherheitsinteressen des vorausfahrenden wie auch des nachfolgenden Fahrzeugführers sowie der mitfahrenden Fahrzeuginsassen gewahrt werden (zu einseitig auf den nachfolgenden Verkehr bezogen im Leitsatz des OLG Köln VRS 86, 29 ff.) [4]. Ist damit die Schutzrichtung des § 4 bereits ihrem wesentlichen Inhalt nach umrissen, bedarf es nur einer ergänzenden Bemerkung, dass auch andere Verkehrsteilnehmer, die mit diesem Fahrerpaar potenziell in Berührung kommen können (z.B.

überholende oder entgegenkommende Fahrzeugführer), durch die verschiedenen Vorschriften über den Abstand geschützt werden sollen.

In Bezug auf den nachfolgenden Verkehr ist nicht nur der unmittelbar nachfolgende Fahrzeugführer mit seinen Insassen geschützt, sondern auch die diesem Fahrzeug folgenden weiteren Fahrzeuge (so das OLG Köln VRS 84, 280 ff., für die Situation von Kettenauffahrunfällen).

Neben der Schutzrichtung bezüglich beteiligter Verkehrsteilnehmer haben die Vorschriften über Sicherheitsabstände auch eine übergreifende Funktion des Schutzes der räumlichen und persönlichen Integrität von Fahrzeugführern gegenüber anderen Fahrzeugführern, die diese geschützte Sphäre durch unterschrittene Sicherheitsabstände ignorieren. Würde dieser räumliche Sicherheitsbereich von Fahrzeugführern allseits respektiert werden, wäre der mühsame Weg in Richtung auf ein besseres Miteinander im Straßenverkehr ein Stück weit leichter zurück zu legen.

4. Die Grenzen der Fahrphysik

Als wichtige physikalisch-technische Tatsache sollte jeder Fahrzeugführer eines Kfz wissen bzw. im theoretischen Fahrschulunterricht rechtzeitig erlernen, dass der größte Teil der gefahrenen Geschwindigkeit beim Bremsen erst auf den letzten Metern des Bremsweges abgebaut wird. Eine interessante "Tabelle der fehlenden Meter des Sicherheitsabstandes" verdeutlicht unter Berücksichtigung der eben genannten Tatsache die noch vorhandene Aufprallenergie für den Fall, dass auch nur ein Zehntel des üblichen Anhalteweges durch einen zu geringen Sicherheitsabstand fehlt.

Hilfreich zum Errechnen des notwendigen Anhalteweges im Rahmen dieser Tabelle ist ein Rechenprogramm, das der interessierten Allgemeinheit von der Polizei in Baden-Württemberg auf deren informativen Internetseiten neben weiteren für die Verkehrsicherheit interessanten Programmen zum kostenlosen Download zur Verfügung gestellt wird (www.polizei-bw.de/verkehr/fahrrad/index.htm). Dieses hilfreiche Programm wurde erarbeitet von der Landespolizeidirektion Tübingen und dient als Rechengrundlage für die nachfolgende Tabelle.

Tabelle der fehlenden Meter des Sicherheitsabstands

Vor dem Anhalten gefahrene Geschwindigkeit in km/h

Notwendiger Anhalteweg

Wenn 1/10 des notwendigen Anhalteweges fehlt, sind dies

Wenn 1/10 des notwendigen Anhalteweges fehlt, fährt man beim Aufprall noch

Die entstehende Aufprallenergie entspricht dann einem Sturz aus einer Höhe von

30

13 m

1,3 m

18 km/h

1,5 m

50

28 m

2,8 m

25 km/h

2,4 m

70

47 m

4,7 m

30 km/h

3,5 m

100

84 m

8,4 m

40 km/h

6,0 m

120

114 m

11,1 m

48 km/h

10,0 m

150

168 m

16,8 m

55 km/h

11,5 m

5. Die "Hauptunfallursache Nr. 3"

Der ungenügende Abstand nimmt in der Rangfolge der durch Fahrzeugführer gesetzten Hauptunfallursachen schon seit mehreren Jahren unangefochten den dritten Rang ein.

Die konkreten Zahlen für die Jahre 1999 und 2000 zeigen eine Stagnation auf hohem Niveau und lassen es potenziell angeraten scheinen, die entgegen wirkenden Maßnahmen der Verkehrsüberwachung auf diesem Gebiet zu intensivieren.

Keine Erkenntnisse bietet die absolute Anzahl dieser Unfallursache über die vielen Gefahrenbremsungen mittels derer Auffahrunfälle gerade noch vermieden werden konnten. Dabei liegt es oft an Faktoren, die nicht direkt vom Fahrzeugführer beeinflusst werden können wie etwa dem ausgefeilten technischen Bremssystem des Fahrzeugs oder einem exzellenten Straßenbelag, die den vom gefährlich abbremsenden Fahrzeugführer an den Tag gelegten Mangel an Aufmerksamkeit oder seine unbesonnene Fahrweise ausgleichen.

Verkehrspolitisch mitursächlich für das häufigere Zustandekommen von Auffahrunfällen ist eine stetig wachsende Verkehrsdichte (so auch HUK-Verband, Fahrzeugsicherheit 90, S. 49; Langwieder, Das Risiko der Fahranfänger, S. 9).

Hauptunfallursache "ungenügender Abstand"

Unfallursachen

1997

1998

1999

2000

2001

Unfallursachen insgesamt

487.386

472.925

493.527

475.792

466.863

Ungenügender Abstand

52.813

53.924

56.783

56.412

55.740

Nicht angepasste Geschwindigkeit

91.477

91.716

93.951

88.157

88.770

Fehler beim

Abbiegen

36.274

34.997

37.654

36.622

36.165

(Quelle: Statistisches Bundesamt unter www.destatis.de; Stand der Tabelle: 14.06.2002).

Die Hauptunfallursache des ungenügenden Abstandes beschreibt allerdings nur den Stellenwert im Rahmen der Unfallsymptomatik, ist jedoch nicht aussagekräftig hinsichtlich der Ursache für den ungenügenden Abstand zwischen Auffahrendem und Auffahropfer, der in den tieferen Schichten der Fahrmotivationen zu suchen sein wird.

Als Ursachen für einen in ungenügendem Umfang eingehaltenen Sicherheitsabstand kommen Gründe in Frage, die allesamt beim Fahrzeugführer des auffahrenden Fahrzeugs zu suchen sind. Damit ist im Rahmen dieser Betrachtung der Thematik Verkehrssicherheit erneut der "Unfallfaktor Mensch" in der Form des Versagens erforderlicher Fahrfähigkeiten und/oder -fertigkeiten angesprochen. Mängel in der für das Verkehrsgeschehen geforderten Aufmerksamkeit können hier ebenso ursächlich sein wie etwa körperliche Defizite im Sehvermögen der Fahrzeugführer (dazu grundsätzlich die Untersuchung der Bundesanstalt für Straßenwesen von Lachenmayr/Buser/Keller, Sehstörungen als Unfallursache, S. 7 ff., 60 ff.) [5]. Aber auch grundsätzliche Einstellungen zur Verkehrsteilnahme überhaupt, übliche Gewohnheiten bei der Verkehrsteilnahme und erlernte bzw. tradierte Wertvorstellungen können in diesem Zusammenhang eine nicht zu vernachlässigende Rolle für die Herbeiführung von Auffahrunfällen spielen. Nach alledem spielt es für die faktische Notwendigkeit, Sicherheitsabstände einzuhalten, eine entscheidende Rolle, auf Grund welcher charakterlichen Grundhaltung bzw. in welcher charakterlichen Verfassung die Fahrzeugführer am Straßenverkehr teilnehmen. Es ist grundsätzlich als eine Frage der charakterlichen Reife anzusehen und der Rücksichtnahme gegenüber anderen Fahrzeugführern anzusehen, wenn Abstandsregeln in dem für die Verkehrssicherheit erforderlichen Umfang eingehalten werden.

Eine oft anzutreffende, aber gleichwohl unglückliche Kombination für die Verkehrssicherheit entsteht zudem stets dann, wenn bei dem praktizierten Fahrstil zu dem geringen Sicherheitsabstand noch eine nicht angepasste Geschwindigkeit hinzutritt (Verstoß gegen § 3 Abs. 1 Satz 1). In solchen Fällen kann bereits eine kleine Unaufmerksamkeit des mit diesem Fahrstil am Straßenverkehr teilnehmenden Fahrzeugführers zu einem folgenschweren Auffahrunfall führen.

Mit der Verursachung von Verkehrsunfällen hängt aber auch die auf der Grundlage von Information und Erfahrung getroffene persönliche Einschätzung der Fahrdynamik und des Fahrverhaltens des eigenen Kfz eng zusammen. Gerade junge Fahrerinnen und Fahrer haben damit grundsätzliche Probleme, insbesondere dann, wenn sie einen Pkw mit voller Besetzung führen (HUK-Verband, S. 21). Sie geraten z. T. durch falsche und überzogene Reaktionen in Risikosituationen, die von ihnen nicht mehr bewältigt werden können. Es besteht die begründete Vermutung, dass insbesondere Fahranfänger den Anhalte-Bremsweg infolge mangelnder Erfahrungswerte noch nicht in dem für die Verkehrsicherheit erforderlichen Maße abschätzen können (so auch die einschlägige Selbsteinschätzung dieser Risikogruppe, dokumentiert in der Untersuchung von Weißbrodt, Fahranfänger im Straßenverkehr, S. 24). Diese Einschätzung wird bestätigt durch neueste Erkenntnisse des Instituts für Fahrzeugsicherheit, wonach Auffahrunfälle hinter Unfällen durch Abkommen von der Fahrbahn und Unfällen beim Abbiegen den dritten Rang bei der Unfallverursachung durch junge Fahrer einnehmen (Langwieder, Unfallumstände bei Pkw-Kollisionen junger Fahrer, S. 18 ff.).

Im Rahmen der polizeilichen Unfallaufnahme sollte insbesondere bei Auffahrunfällen im Rahmen der Vernehmung von Betroffenen, Opfern und Zeugen genau hinterfragt werden, auf welcher Ursache die ungenügende Einhaltung des Sicherheitsabstands im Einzelfall beruhte. Gefragt ist hier also nach der wirklichen Ursache hinter der vordergründig zuerst erkennbaren Unfallursache. Nicht selten könnten dadurch Mängel in der Fahreignung offenkundig werden, für die seitens der Polizei gem. § 2 Abs. 12 Satz 1 StVG eine Meldepflicht an die zuständige Fahreignungsbehörde besteht. Dazu bedarf es allerdings einer weiteren näheren Information und Sensibilisierung der den Unfall aufnehmenden Polizeibeamten, die jeweils nur im Rahmen der Aus- und Fortbildung vorgenommen werden könnte.

6. Die Unfallfolgen: Sachschäden und Personenschäden

a) Sachschäden

Hinsichtlich der Anstoßflächen bei Pkw/Pkw-Unfällen rangiert der Heckaufprall zahlenmäßig zwischen dem Frontalaufprall und dem Seitenaufprall auf dem zweiten Rang in der Aufprallverteilung (HUK-Verband, S. 34). Bei der Verteilung der Verletzungsfolgen von Fahrzeuginsassen folgt der Heckaufprall jedoch in den tödlichen Unfallfolgen und Unfällen mit Schwerverletzten mit deutlichem Abstand hinter dem Frontalaufprall und dem Seitenaufprall, so dass bei Auffahrunfällen zumeist mit Sachschäden zu rechnen ist (HUK-Verband, S. 35 ff.) [6].

Bei Frontbeschädigungen am Kfz werden die aufgetretenen Karosserieschäden in fünf Gruppen von Beschädigungsgraden einklassifiziert (anschaulich bebildert dargestellt bei Langwieder/Hummel/Müller, Unfälle mit Airbag-Fahrzeugen, S. 207 und bei Langwieder/Hummel/Müller, Der Airbag im Realunfall, S. 48).

  Klasse 1 kleinere Kratzer, Beulen o. ä. (im wesentlichen am Stoßfänger)
  Klasse 2 mäßige Beschädigungen (bis zum vorderen Teil der Kotflügel und Motorhaube)
  Klasse 3 schwere Beschädigungen (bis zum mittleren Teil der Kotflügel und Motorhaube)
  Klasse 4 extreme Beschädigungen (vollständige Deformierung von Kotflügel und Motorhaube)
  Klasse 5 totale Beschädigung (Deformierungen bis hin zur Fahrgastzelle)

 

Schaubild Anstoßflächen

 

(Quelle: HUK-Verband, S. 34)

b) Personenschäden

Das Risiko bei Pkw/Pkw-Unfällen getötet zu werden ist bei Kollisionen gegen das Fahrzeugheck weitaus geringer als bei frontalem oder seitlichem Anstoß. In einer vergleichenden Untersuchung des IFM von 831 Pkw/Pkw-Unfällen mit schweren Verletzungsfolgen aus dem Jahr 1998 ergaben sich bei der näheren Analyse tödlicher Kollisionen folgendes Bild:

(Quelle: Hommel/Langwieder/Kramlich, Struktur der Pkw-Unfälle, S. 4)

Wenn Verletzungen auftreten, so ist die häufigste Verletzungsfolge eine Verletzung der Halswirbelsäule, die inzwischen mit einem Anteil von 81 % als Verletzung infolge von Pkw/Pkw-Kollisionen überhaupt auftritt, wobei sich diese Verletzungen mit einem Anteil von 61,3 % auf den Heckaufprall verteilen (HUK-Verband, S. 48 f., mit dem berechtigten Hinweis auf die nahe liegende Vermutung, dass viele HWS-Verletzungen auch aus dem Grund angezeigt und hinsichtlich der Ansprüche auf Schmerzensgeld reguliert werden, weil es weiterhin an objektiven Diagnosemethoden zum Nachweis des Gegenteils der behaupteten Verletzung mangelt). Diese Unfallfolgen ließen sich nach den Erkenntnissen der Unfallforschung zu einem großen Anteil minimieren, wenn die Kopfstützen korrekt angepasst und eingestellt würden (nach HUK-Verband, S. 51, zu einem Anteil zwischen mindestens 40 bis höchstens 73 %).

Ein erheblicher Sicherheitsgewinn ist bei Fahrzeugen zu verzeichnen, die mit Airbags ausgerüstet sind. Heute werden in Deutschland bereits 94 % der Neuwagen mit Fahrerairbag und 75 % mit zusätzlichem Beifahrerairbag ausgeliefert (Langwieder/Hummel/Müller, Der Airbag, S. 4).

Gegenüber nur mit einem Dreipunktgurt gesicherten Fahrzeuginsassen bietet der zusätzlich vorhandene und auslösende Airbag eine Reduzierung der schweren und tödlichen Verletzungen von mehr als 40 % (Langwieder/Hummel/Müller, Der Airbag, S. 5). Gegenüber nicht gesicherten Fahrzeuginsassen und bezogen auf alle Unfallarten ergibt sich durch den Airbag ein Sicherheitsgewinn von sogar 65 %, während der alleinige Sicherheitsgewinn des Airbags bei nicht angegurteten Fahrern lediglich bei 20 % einzuordnen ist (Langwieder, Airbag, S. 2).

Zu Schwierigkeiten könnte allerdings das technische Problem der Auslösung von Airbags bei niedrigen Kollisionsgeschwindigkeiten führen (dazu näher Langwieder/Hummel/Müller, Unfälle, S. 206 ff. sowie dies., Der Airbag, S. 45 und Langwieder, Airbag, S. 6 f.). Dieses Problem dürfte jedoch mittels einer technisch leicht möglichen Anhebung der Auslöseschwelle ebenso zu lösen sein wie die ärgerliche Auslösung von Beifahrerairbags, wenn sich kein Beifahrer im Auto befindet (dazu Langwieder/Hummel/Müller, Der Airbag, S. 45).

Notwendiger ist dem gegenüber eine Optimierung des Zusammenwirkens zwischen Gurt und Airbag, um auch auf diesem technischen Weg eine weitere Reduzierung der Verletzungsfolgen zu erreichen (dies., a.a.O., ebd.).

Bemerkenswert ist nach wie vor die an Eltern kleiner Kinder gerichtete Empfehlung des IFM, Kinder mit Schutzsystemen prinzipiell dann auf dem Rücksitz zu platzieren, wenn das Fahrzeug mit einem Beifahrerairbag ausgerüstet ist (Langwieder, Airbag, S. 8). Lässt sich aus Platzgründen eine Beförderung der Kinder auf dem Vordersitz nicht vermeiden, sollte stets das älteste Kind auf dem Vordersitz Platz nehmen und der Sitz zusätzlich in die hinterste Position geschoben werden (ders., a.a.O., ebd.).

Welches Potenzial die Verbesserung der Fahrzeugsicherheit überhaupt bietet, wird an der Tatsache deutlich, dass die Verringerung der absoluten Anzahl der im Straßenverkehr getöteten Verkehrsteilnehmer vor allem auf den Rückgang der getöteten Pkw-Insassen zurückzuführen ist (Hummel/Langwieder/Kramlich, Struktur der Pkw-Unfälle, S. 1 f.).

Als ein Manko ist es allerdings zu bewerten, dass die Fahrzeugindustrie ihre Abstandswarnsysteme zwar für die Tätigkeit des Einparkens anbietet, um das Risiko hinsichtlich geringer Lackschäden zu minimieren, jedoch hinsichtlich der Abstände zu voraus fahrenden Fahrzeugen bei vergleichsweise exponentiell gesteigerten Risiken hinsichtlich Personen- und Sachschäden keine Chance für ein vergleichbares technisches Angebot zu sehen vermag.

c) Der Unfallhergang

Häufiger als bisher angenommen kommt es vor Unfällen zu der Risikosituation des Schleuderns, also einer äußerst instabilen Situation, in der das Kfz außer Kontrolle gerät und in vielen Fällen nicht wieder stabilisiert werden kann. Dieser Anteil beträgt ca. 20 bis 25 % bei allen Pkw-Unfällen mit Personenschäden (von Langwieder, Unfallrisiko, S. 11, bezeichnet als "Schleudern in der Pre-Crash-Phase"). Nach den Untersuchungen des IFM beruhen ¾ dieser Schleudervorgänge auf einer vorausgegangenen fahrerischen Unachtsamkeit oder einem Fahrfehler (Langwieder, ebd.).

Gerade für Schleuderunfälle ist es typisch, dass in ca. 44 % dieser Unfälle überhaupt nicht gebremst wird (Langwieder, Unfallrisiko, S. 13, stellt darüber hinaus fest, dass nur in einem Drittel dieser Fälle die u. U. rettende Vollbremsung vollzogen wird), so dass sich die Fahrer im Ergebnis in ihr auf sie zukommendes Schicksal ergeben. In Bezug auf die fahrerische Notwendigkeit, bremsen zu können, besteht daher die berechtigte Forderung, Vollbremsungen in das Ausbildungsprogramm von Fahrschüler zu integrieren (Langwieder, Unfallrisiko, S. 13).

7. Verkehrspädagogische und verkehrspsychologische Aspekte

Fahrschüler übernehmen notwendige Lernmuster in erster Linie in der Form des Nachahmens tradierten Verkehrsverhaltens. Dieser Grundsatz gilt auch für das Einüben des richtigen Umgangs mit Sicherheitsabständen. Positive Vermittlung von Lerninhalten setzt also auf der Grundlage einer konkret fallbezogenen Gefahrenlehre an bei vorbildlichem und damit nachahmenswertem Verkehrsverhalten. Dieses kann bereits in der ersten praktischen Fahrstunde grundsätzlich empfohlen und in ersten kleinen Schritten eingeübt werden.

Alltägliche Fahrsituationen können bei diesen Lernschritten auf ihre Bedeutung für das Abstandsgebot hin analysiert werden, um auf diese Weise den Blick für ein situationsbezogenes Lernen zu schulen. Nur wer die einzelne Fahrsituation in ihrem ganzen Umfang erkennt, analysiert sie entsprechend tiefgründig, zieht dann die richtigen Schlüsse für sein Fahrverhalten und fährt dadurch sicherer.

An welchen Stellen im Lernbetrieb es aus verkehrspädagogischer Sicht erforderlich erscheint, sollten Lernsimulationen kreativ ersonnen und in die Praxis umgesetzt werden.

Wenig Sinn hat dem gegenüber die Vermittlung einer Motivation, deren Ziel es ist, der Entdeckung von Verstößen gegen Abstandsgebote mittels einer Strategie des frühzeitigen Erkennens von Messpunkten im Verkehrsraum zu entgehen. Wesentlich mehr Erfolg verspricht es dagegen, über die Vermittlung der Grundlage eines realistischen Gefahrenbewusstseins quasi en passant auch darauf hinzuweisen, dass es tatsächlich auch eine gewisse Entdeckungswahrscheinlichkeit für Abstandsverstöße gibt, die objektiv messbar und subjektiv erfahrbar ist. Regelkonformes Verkehrsverhalten lässt sich nicht nur durch Abschreckung und Furcht vor Bestrafung erreichen, sondern bedarf eines umfassendes Prozesses pädagogischer Vorbereitung und Begleitung (i.d.S. auch Koßmann, S. 11).

Auch der mahnende und informierende Aspekt des Hinweisens auf die Höhe und Art der Sanktionierung von Abstandsverstößen kann seinen Teil zu einer künftigen Normakzeptanz von Fahrschülern beitragen, erfordert jedoch von verkehrspädagogischer Seite zwingend theoretische und praktische Rechtskenntnisse des materiellen und formellen Ordnungswidrigkeitenrechts.

In jeder Hinsicht erfolgversprechender ist jedoch der pädagogisch-psychologische Ansatz, den angehenden Kraftfahrern hinsichtlich ihrer persönlichen Einstellungen, Wertvorstellungen und üblichen Gewohnheiten im Verkehrsverhalten nachzuspüren, um auf der Grundlage dieser sehr persönlichen Kenntnisse die fahrerischen Fähigkeiten und Fertigkeiten zielgenau zu schulen. Auf diese Weise kann Einstellungen vorgebeugt werden, die sonst in praktizierter Gedankenlosigkeit und Mängeln im Verantwortungsbewusstsein gipfeln würden, welche die Unfallrisiken im Einzelfall auch hinsichtlich notwendig einzuhaltender Sicherheitsabstände beträchtlich erhöhen würden. Allerdings würde für diese Wertvermittlung ein Näheverhältnis zwischen Fahrlehrern und Fahrschülern zu wünschen sein, wie es in der Realität des heutigen Ausbildungsgeschehens nur noch sehr selten anzutreffen sein wird. Dennoch bleibt dieses vertiefte Ausbildungsverhältnis, das sicherlich nur im Rahmen einer wünschenswerten zweiphasigen Fahrausbildung zu gewährleisten wäre, aus verkehrspolitischen Gründen auch weiterhin zu fordern. Aus aktueller Sicht bleibt die angesprochene Wertsensibilisierung und –vermittlung bei Fahranfängern und jungen Fahrerinnen und Fahrern in jedem Fall für erforderlich werdende Nachschulungen während der Probezeit zu fordern, während gegenüber punktebelasteten Fahrzeugführern die notwendigen Werte und Kenntnisse wenigstens im Rahmen von Aufbauseminaren zum Ausbildungsgegenstand gemacht werden sollten.

Bei MPU-Begutachtungen besteht eine weitere Chance, Motivationen für erkannte negative Auffälligkeiten bei der Bewältigung der Fahrvorgänge auch im Rahmen von Abstandsverstößen zu hinterfragen. Psychologische Gutachter und Obergutachter werden bei einschlägigen Verstößen gegen die Vorschriften über Sicherheitsabstände sicherlich besonders dann der Motivation ihrer Probanden im Einzelfall näher nachspüren, wenn weitere Anzeichen für Aggressivität im Straßenverkehr auch aus anderen im VZR eingetragenen Delikten erkennbar sind.

Rückmeldungen zum Artikel bitte auch über folgende Adresse:

Fachhochschule für Polizei Sachsen

Fachbereich Verkehrswissenschaften
Prof. Dr. Dieter Müller
Friedensstraße 120
02929 Rothenburg/Oberlausitz

 

Randnummern:

[1] Wie bisher ist der Autor sehr dankbar für Zuschriften und Rückmeldungen aus der polizeilichen Praxis.

[2] Sämtliche Literaturangaben dieses Aufsatzes finden sich mit näheren Angaben versehen im Praxiskommentar des Verfassers zur StVO, "StVO aktuell", herausgegeben im Münchener Verlag Heinrich Vogel. Für Multiplikatoren in der bayerischen Polizei besteht die Möglichkeit, den Kommentar nebst Nachlieferungen zu Sonderkonditionen zu beziehen (Kontakt über den Verfasser).

[3] Auch die Zeitschrift Polizei, Verkehr, Technik (PVT) befindet sich in jeder einschlägig sortierten Bibliothek der Polizei.

[4] Angegebene Urteile aus der Verkehrsrechtssammlung (VRS) sind auch für Kolleginnen und Kollegen der Polizei jederzeit einzusehen in der Bibliothek eines Amts-, Land- oder Oberlandesgerichts. Kolleginnen und Kollegen, die Bezieher der bayerischen Zeitschrift "Verkehrsdienst" (VD) sind, erhalten seit Februar 2002 einen exklusiven Zugang zur verkehrsrechtlichen Urteilsdatenbank im Internetangebot dieser Praxiszeitschrift für Polizei und Straßenverkehrsbehörden unter der Adresse www.verkehrsdienst.de.

[5] Sämtliche Untersuchungen der Bundesanstalt für Straßenwesen findet der interessierte Leser in den Bibliotheken polizeilicher Fachhochschulen.

[6] Der Verfasser ist den Kolleginnen und Kollegen aus der polizeilichen Praxis wie bisher sehr dankbar für die Übersendung nicht mehr benötigter Unfallfotos sowie für anonymisierte Aktenvorgänge (OWi- und Strafverfahren), die in der Lehre an der FHPol verwendet werden. Vertraulicher Umgang wird ausdrücklich zugesichert.

 

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