Anmerkung zu einer Gerichtsentscheidung des Verwaltungsgerichts Berlin

Veröffentlicht in der juristischen Fachzeitschrift: "Neue Justiz" (Nomos Verlag, Baden-Baden, Berlin) Heft 11/2002, S. 612 ff.

 

Abschleppen trotz Handynummer/Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

VG Berlin, Urteil vom 17. April 2002 - 11 A 408/02 (nicht rechtskräftig)

 

ASOG §§ 13, 15, 17

StVO § 12 Abs. 1 Nr. 6 Buchst. b, § 41 Abs. 2 Nr. 8 Zeichen 286 (eingeschränktes Haltverbot)

OWiG § 16

1. Ein Polizeibeamter ist grundsätzlich nicht dazu verpflichtet, Ermittlungen nach dem Aufenthaltsort des Fahrzeugfahrers anzustellen. Dies ist nur dann geboten, wenn eine sofortige Ermittlung des Aufenthaltsortes aufgrund eines deutlich sichtbaren Hinweises, dass der Fahrer in der Nähe ist und kurzfristig aufgefunden werden kann, möglich ist.

2. Die Polizei ist nicht dazu verpflichtet, den Versuch zu unternehmen, den Fahrer eines Fahrzeugs über eine auf einem Zettel angegebene Funktelefonnummer zu erreichen, wenn sich aus dem Zettel kein eindeutiger Hinweis auf einen nahegelegenen Aufenthaltsort des Fahrers ergibt.

(Leitsätze des Verfassers)

Problemstellung:

Der Rechtsstreit behandelt den Problemkreis des auf polizeirechtlicher Grundlage angeordneten Abschleppens. Die außerhalb Berlins ansässige Klägerin wurde als Halterin eines Montagefahrzeugs zur Zahlung von Umsetzungsgebühren herangezogen. Ihr Fahrzeug hatte im April 2001 einen Auftrag zur angeblichen Störungsbeseitigung starken Gasgeruchs in der Berliner Innenstadt erhalten und zur Ausführung dessen, "um nicht unnötig Zeit mit der Parkplatzsuche zu verschwenden" das Fahrzeug im Bereich eines eingeschränkten Haltverbots geparkt. Hinter der Frontscheibe hinterließ der Fahrer ein Schild mit Firmenaufschrift und einer Handynummer.

Während der Parkdauer wurde die Polizei auf das ordnungswidrige Verhalten aufmerksam, das sich zusätzlich durch mehrfache Behinderung des dortigen Fahrzeugverkehrs verstärkte. Die Polizei ordnete daraufhin die Umsetzung des Fahrzeugs an, ohne auf die nach ihrer Weisungslage unbeachtliche Handynummer zu reagieren.

Die Klägerin legte Widerspruch gegen den Gebührenbescheid und erhob Anfechtungsklage gegen den ablehnenden Widerspruchsbescheid. Nach ihrem Vortrag sei der Parkverstoß gem. § 16 OWiG wegen rechtfertigenden Notstands gerechtfertigt gewesen. Überdies sei die Polizei dazu verpflichtet gewesen, den Fahrer über die im Fahrzeug hinterlassene Handynummer herbeizurufen, bevor sie den Umsetzungsauftrag erteilte.

Das Rechtsmittel der Anfechtungsklage wurde vom VG Berlin als unbegründet abgewiesen.

Die im Verfahren aufgeworfenen Rechtsfragen behandeln zwei unterschiedliche Problemkreise, die den Rechtsmaterien des Ordnungswidrigkeitenrechts und des allgemeinen Polizeirechts entlehnt sind. Daraus ergibt sich eine zweistufige Rechtmäßigkeitsprüfung.

Im ersten Schritt wird das Vorliegen einer konkreten Gefahr geprüft, weil ein Fahrzeug auf polizeirechtlicher Grundlage regelmäßig nur dann umgesetzt bzw. abgeschleppt werden darf, wenn eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung vorliegt. Diese ist jedenfalls immer dann gegeben, wenn ein Ordnungsverstoß gegen eine Parkvorschrift der StVO vorliegt. Dazu ist in diesem Verfahren problematisch, ob der Parkverstoß durch § 16 OWiG gerechtfertigt ist, weil in diesem Fall keine polizeirechtlich relevante Gefahr mehr vorläge und eine Umsetzungsanordnung keine Rechtsgrundlage hätte.

Im zweiten Schritt muss geprüft werden, ob sich die Umsetzungsanordnung für den Fall einer rechtmäßig anzunehmenden Polizeigefahr im Rahmen der Verhältnismäßigkeit befand.

Zusammenfassung der Entscheidungsgründe:

Das VG Berlin hält die Anfechtungsklage für unbegründet, weil die angefochtenen Bescheide rechtmäßig seien und die Klägerin dadurch nicht in ihren Rechten verletzt sei.

Die Klägerin sei zu Recht Gebührenschuldnerin geworden, weil sie als Zustandsstörerin gem. § 14 Abs. 1 und 3 ASOG rechtmäßig zur Erstattung der Gebühren hätte herangezogen werden können.

"Rechtsgrundlage für die Anordnung der Umsetzung des Fahrzeugs der Klägerin ist § 17 Abs. 1 ASOG. Hiernach können die Ordnungsbehörden und die Polizei die notwendigen Maßnahmen treffen, um eine im einzelnen Falle bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung (Gefahr) abzuwehren. Die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Vorschrift liegen vor und Ermessensfehler sind nicht ersichtlich."

Eine Gefahr habe im verkehrswidrigen Ordnungsverstoß gegen § 12 Abs. 1 Nr. 6 Buchst. b StVO vorgelegen, weil durch § 41 Abs. 2 Nr. 8 Zeichen 286 StVO ein eingeschränktes Haltverbot angeordnet und keine Ladetätigkeit zu beobachten gewesen sei. Dieser Ordnungsverstoß sei auch nicht durch rechtfertigenden Notstand gem. § 16 OWiG gerechtfertigt gewesen, weil eine Notstandssituation von der Klägerin nicht substantiiert dargelegt worden sei. Überdies hätte es aus Sicht des Gerichts bei einem behaupteten starken Gasgeruch nahe gelegen, "die Gasag und/oder die Feuerwehr zu alarmieren", welche wenige Minuten später am Einsatzort gewesen wären. Die außerhalb von Berlin geschäftsansässige Klägerin zu rufen spreche jedenfalls gegen eine behauptete erhebliche Gefahr.

Die Klägerin hätte zudem auch gem. § 15 Abs. 1 ASOG nicht rechtzeitig erreicht werden können, weil ihr Fahrzeug nicht in Berlin zugelassen gewesen sei und eine Halteranfrage damit keinen Erfolg versprochen hätte. Auch über den Aufenthaltsort des Fahrers haben keine Erkenntnisse vorgelegen und ein Polizeibeamter sei "grundsätzlich nicht verpflichtet, Ermittlungen nach dem Aufenthaltsort des Fahrzeugs (Anm. des Verf.: hier liegt ein offensichtlicher Druckfehler im Urteilstext vor, richtigerweise muss es "des Fahrers" heißen) anzustellen." Dies sei in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des OVG Berlin nur dann geboten, "wenn eine sofortige Ermittlung des Aufenthaltsortes aufgrund eines deutlich sichtbaren Hinweises, dass der Fahrer in der Nähe ist und kurzfristig aufgefunden werden kann, möglich ist."

Etwas anderes gelte auch nicht, wenn im Fahrzeug eine Handynummer hinterlassen worden sei. Das BVerwG habe zwischenzeitlich in seiner Revisionsentscheidung vom 18. Februar 2002 (BVerwG 3 B 149.01) seine bis dahin geltende Rechtsauffassung aus dem Jahr 1983 beibehalten, "wonach einem durch die hinter der Windschutzscheibe des Kraftfahrzeugs angebrachte Adresse und Telefonnummer veranlassten Nachforschungsversuch regelmäßig schon die ungewissen Erfolgsaussichten und nicht abzusehenden weiteren Verzögerungen entgegenstehen." (Zitat des BVerwG aus Beschluss vom 6. Juli 1983 - BVerwG 7 B 182.82 - Buchholz 442.151 § 13 StVO Nr. 13)

Demnach sei die Polizei nicht dazu verpflichtet gewesen, einen Versuch zu unternehmen, den Fahrer der Klägerin per Funktelefon zu erreichen, weil sich aus dem Zettel kein Hinweis auf einen nahe gelegenen Aufenthaltsort des Fahrers ergeben habe.

Zudem seien weitergehende Ermittlungen der Polizei nach Fahrer oder Halter nicht erforderlich gewesen, weil es nicht deren Aufgabe sei, "Verkehrsteilnehmer vor den Folgen ihres verkehrswidrigen Verhaltens zu bewahren".

Auch haben die übrigen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen für eine Umsetzung vorgelegen, weil es durch das verbotswidrig abgestellte Fahrzeug zu Behinderungen des fließenden Verkehrs gekommen sei.

 

Kommentar:

Rechtlich unproblematisch ist im vorliegenden Sachverhalt die Beurteilung des ordnungswidrigen Parkverstoßes; dennoch ist in der juristischen Bewertung der behaupteten Notstandslage zumindest ein juristischer Fauxpas zu erkennen. Das VG bewertet zwar die nicht gegebene Notstandssituation im Ergebnis richtig, setzt jedoch als Begründung lediglich eigene, wenn auch nahe liegende, Vermutungen ein, wo aber bei nahe liegenden Zweifeln am behaupteten Sachverhalt auf Grund des im Verwaltungsgerichtsprozess geltenden Untersuchungsgrundsatzes (§ 86 Abs. 1 VwGO) eine Beweisaufnahme angezeigt gewesen wäre. Diese war jedoch allein aus dem Grund entbehrlich, weil der rechtfertigende Notstand gem. § 16 OWiG, der allgemein im Ordnungswidrigkeitenrecht kaum eine praktische Rolle spielt, selbst bei unterstellt wahrem Sachvortrag der Klägerin, auch hier nicht einschlägig gewesen sein dürfte. Eine Notstandslage lag nicht vor, weil der Parkverstoß bereits objektiv keine Handlung sein konnte, die zur Abwehr einer Gefahr für Leib, Leben und Eigentum geeignet gewesen wäre.

Auch der zweite Teil der Rechtmäßigkeitsprüfung, der sich auf die Umsetzungsmaßnahme bezieht, begegnet im Ergebnis nur geringen Bedenken.

Zunächst einmal war das nach § 17 Abs. 1 ASOG erforderliche Merkmal einer vorliegenden polizeirechtlichen Störung unproblematisch gegeben, weil diese mit einem Parkverstoß gegen §§ 12 Abs. 1 Nr. 6 Buchst. b, 41 Abs. 2 Nr. 8 Zeichen 286 StVO immer erfüllt ist.

Auch im Rahmen der obligatorischen Verhältnismäßigkeitsprüfung der Abschleppanordnung begegnet zumindest der erste Prüfungsteil, die Geeignetheit der Maßnahme, keinerlei Bedenken. Eine Umsetzungsmaßnahme ist per se stets dazu geeignet, eine durch ein verbotswidrig parkendes Fahrzeug entstandene Störungslage zu beseitigen.

Bliebe also auf die beiden weiteren Prüfungspunkte Erforderlichkeit und Zumutbarkeit der Maßnahme (= Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) etwas näher einzugehen.

Die Erforderlichkeit der Abschleppmaßnahme war aus polizeilicher Sicht ebenfalls anzunehmen und auch ex post gegeben. Es bestand kein milderes Mittel zur effektiven Störungsbeseitigung, da, was das Gericht in seiner Begründung leider unbeachtet ließ, mit dem Parkverstoß bereits konkrete Behinderungen des fließenden Fahrzeugverkehrs einhergingen. Damit lag aber bereits eine doppelte Störung vor, die zum Einen aus dem abstrakten Ordnungsverstoß und zum Anderen aus mehrfachen konkreten Behinderungen anderer Verkehrsteilnehmer gem. § 1 Abs. 2 StVO bestanden. Genau diese konkreten Behinderungen aber bildeten den eigentlich stichhaltigen Grund für die Erforderlichkeit der Abschleppanordnung. Insbesondere Rechtsanwender in Ausgangs- und Widerspruchsbehörden sollten bei nachfolgenden Widersprüchen sehr wohl zwischen abstrakten und konkreten Ordnungsverstößen unterscheiden, wobei der bloße abstrakte Ordnungsverstoß für den anordnenden Beamten gerade bei der Überprüfung eines möglicherweise anzuwendenden milderen Mittels einen größeren zeitlichen Handlungsspielraum eröffnet. Dieser Spielraum war im vorliegenden Fall nicht gegeben.

Im Ergebnis war aber auch die Zumutbarkeit der Abschleppanordnung gegeben und damit die Verhältnismäßigkeitsprüfung insgesamt rechtmäßig. Dies ergibt sich jedoch nicht ohne weiteres aus der Begründung des VG, das sich apodiktisch auf eine neue einschlägige Entscheidung des BVerwG (3 B 149/01, noch nicht veröffentlicht und daher im Übrigen schon aus dieser Sicht bedenkliches "Geheimwissen" des VG Berlin) in Bestätigung bereits früher ergangener Rechtsprechung (DVBl 1983, S. 1066) ergibt. Die im Alltag auftauchenden Sachlagen sind nämlich nicht ohne weiteres 1 : 1 auf Tatbestände früherer höchstrichterlicher Entscheidungen übertragbar, so gern sich dies auch die erstinstanzlichen Gerichte im Sinne einer effektiveren Rechtsauslegung wünschen. So lässt auch die Rechtsprechung des BVerwG Raum für die Rechtsauslegung von Behörden, Gerichten und Rechtsanwälten.

Das BVerwG hält nämlich aus Sicht des anordnenden Beamten nur diejenigen Nachforschungsversuche für nicht notwendig, deren Erfolgsaussichten ungewiss sind. Im zulässigen Umkehrschluss darf also aus Gründen der Verhältnismäßigkeit dann keine zeitige Abschleppanordnung erfolgen, wenn konkrete Erfolgsaussichten für eine erfolgreiche Nachforschung nach dem Aufenthaltsort des Fahrer des verbotswidrig geparkten Fahrzeugs bestehen. Dies jedoch ist jeweils Tatfrage, der vom Verwaltungsrichter nach besagtem Untersuchungsgrundsatz nachgegangen werden muss. Dabei lässt das BVerwG seine Ansicht zur modifizierenden Argumentation des OVG Hamburg (DAR 2002, 41) erstaunlicherweise ausdrücklich offen, der Polizei obliege bei Hinweis auf Erreichbarkeit und der Bereitschaft zum Entfernen des Fahrzeugs grundsätzlich eine Nachforschungspflicht. Hier liegt auch der Ansatzpunkt für eine nachträgliche juristische Überprüfung dieses Falles und zukünftiger, ähnlich gelagerter Fälle. Jedoch kann man sich als außen stehender Betrachter des Eindrucks nicht erwehren, dass es gerade die Ausgangsbehörden und Widerspruchsbehörden sind, die in ihrer oft monatelangen oder gar jahrelangen Abhilfe- bzw. Widerspruchsprüfung zu Lasten der Verwaltungsgerichte in rechtswidriger Verkennung ihrer Ermittlungspflichten keine Tatsachenermittlungen vornehmen.

Jedoch bot der vorliegende Fall keinen Anlass zu einer näheren Tatsachenermittlung. Die Erfolgsaussichten für einen möglichen Nachforschungsversuch waren auch bei Wahrunterstellung der vorgetragenen Hinweise auf dem Zettel sehr gering. Zu dieser Vermutung nötigte nicht nur der entfernte Zulassungsort, der die Erfolgsaussichten für eine zügige Halteranfrage zunichte machte, sondern auch die hinterlassene Handynummer. Erstens können Polizeibeamte in ihrem Funkstreifenwagen nicht auf ein dienstliches Handy zurückgreifen, zweitens ist der im Großstadtbereich ohnehin stark belastete polizeiliche Funkbetrieb nicht dazu gedacht, langwierige mittelbare Nachforschungsermittlungen bei entfernten Zulassungsstellen zu ermöglichen (anderes gilt im eigenen Zulassungsbezirk) und drittens bestand durch die konkreten Behinderungen des fließenden Verkehrs ohnehin Zeitverzug, der keinen Aufschub der Abschleppanordnung duldete. Im Übrigen bürgt ein gefundener Halter noch lange nicht für ein schnelles Auffinden des die tatsächliche Gewalt innehabenden Fahrers.

Rechtsanwender und insbesondere Rechtsanwälte sind nach der geltenden Rechtslage gehalten genau zu überprüfen, welche Angaben im Fahrzeug hinterlassen worden sind. Insbesondere interessiert dabei der genaue Wortlaut hinterlassener Nachrichten. Ferner sollten Sie sich über die Tatsachen im engeren räumlichen Bereich des Ortes, an dem die Abschleppanordnung getroffen wurde, informieren (etwa Entfernungen zwischen Abstellort des Kfz und behauptetem Aufenthaltsort des Fahrers sowie die Art der behaupteten Tätigkeit), um den zeitlichen Horizont einer möglichen Entfernung des Fahrzeugs besser abschätzen zu können.

Dem Verwaltungsgericht ist daher im Ergebnis, nicht jedoch in einzelnen Teilen seiner Begründung zuzustimmen.

Literaturhinweis:

Schwabe, Jürgen: Das Abschleppen aus Fußgängerzonen: Grundsatzprobleme eines "ganz einfachen" Falles, in: NVwZ 1994, S. 629 ff.

Jahn, Ralf: Negative Vorbildwirkung als Abschleppgrund?, in: NZV 1990, S. 377 ff.

Prof. Dr. Dieter Müller, Fachhochschule für Polizei Sachsen,

Rothenburg/Oberlausitz

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