Anmerkung zu: Kammergericht Berlin, Beschluss vom 14.7.00 – Az. 2 Ss 131/00 – 3 Ws (B) 275/00 (1)

von Prof. Dr. jur. Dieter Müller, Fachhochschule für Polizei Sachsen in Rothenburg/OL

Veröffentlicht in der Zeitschrift: "Polizei + Verkehrssicherheit", Heft 4/2002, S. 21 ff.

 

Sorgfaltspflichten bei polizeilichen Observationsfahrten

 

 

Einleitung

Polizeiliche Observationsfahrten sind Verfolgungsfahrten besonderer Art. Während es bei "normalen" Verfolgungsfahrten darum geht, flüchtige Personen zu verfolgen (2), sind Observationsfahrten eher von einsatztaktischen Zielen gekennzeichnet.

Dennoch geht es bei beiden polizeilichen Zielen auch darum, die verfolgte Zielsetzung auch zu erreichen und dazu bedarf es in jedem Fall einer problemlosen Bewältigung der Fahrt an sich. D.h. die mit dem Führen des zivilen Dienstfahrzeugs verbundenen Risiken während einer Einsatzfahrt müssen von den jeweiligen Fahrern in jeder Phase der Fahrt beherrscht werden können. Eine missglückte Observationsfahrt, die mit einem Verkehrsunfall endet, hat ihr polizeiliches Ziel ebenso verfehlt wie eine weitere, eigentlich überflüssige Einsatzfahrt (nun zum Unfallort) produziert (3).

Es geht der Sache nach wie bei allen Einsatzfahrten um die Umsetzung des Grundsatzes: "Fahr langsam, denn wir haben es eilig!"

An diesem Punkt greift die nachfolgend besprochene Entscheidung des Kammergerichts Berlin, die in jeder Hinsicht bedenkenswert und für alle polizeilichen Einsatzfahrer wichtig ist.

 

Zum Sachverhalt dieser Entscheidung:

Während einer Einsatzfahrt unter Inanspruchnahme von Sonderrechten fuhr ein Polizeibeamter auf eine mit Lichtzeichenanlage (LZA) geregelte Kreuzung zu. Der polizeiliche Zweck der gesamten Fahrt lag in der Observierung einer Person.

Die Lichtzeichenanlage zeigte für den Einsatzfahrer rotes Licht. Dennoch fuhr der Fahrer des Einsatzfahrzeugs, um den Zweck seines Einsatzes nicht zu gefährden, ohne anzuhalten in die Kreuzung hinein. Dort kam es zum Unfall mit einem anderen Verkehrsteilnehmer.

Das Amtsgericht hat den Einsatzfahrer (im OWi-Verfahren: als Betroffenen) wegen tateinheitlich begangener, fahrlässiger Zuwiderhandlung gegen §§ 1 Abs. 2, 37 Abs. 2 (dort genauer: Nr. 1 Satz 7), 49 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 Nr. 2 StVO nach § 24 StVG zu einer Geldbuße von 350,- DM verurteilt und daneben gegen ihn nach § 25 StVG ein Fahrverbot von einem Monat angeordnet.

Die Rechtsbeschwerde des nunmehr Betroffenen zum Kammergericht Berlin, mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügt, hat (vorläufigen) Erfolg.

 

Der Leitsatz des Gerichts:

StVO § 35 Abs. 1

Zu den Voraussetzungen der Inanspruchnahme von Sonderrechten durch die Polizei nach § 35 Abs. 1 StVO.

 

Aus den Gründen des Gerichts:

Die Feststellungen tragen den Schuldspruch nicht. Zwar weisen sie aus, dass der Betroffene das Haltegebot des roten Lichtzeichens missachtet hat und es zu einem Unfall mit einem anderen Verkehrsteilnehmer gekommen ist. Sie erlauben dem Senat jedoch nicht die Prüfung, ob der Tatrichter ohne Rechtsfehler zu der Annahme gelangt ist, dieses Verhalten sei nicht durch § 35 Abs. 1 StVO gerechtfertigt.

"Dringend geboten" im Sinne des § 35 Abs. 1 StVO meint nicht nur eine in der Vorstellung des Beamten tatsächlich vorhandene Eilbedürftigkeit, sondern räumt diesem einen Beurteilungsspielraum ein, innerhalb dessen er sein Handeln als zur Erfüllung seiner dienstlichen Aufgabe geboten werten darf. Nur wenn er die Grenzen dieses Spielraumes überschreitet oder in einem dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Umfange davon Gebrauch macht, fällt das Vorrecht weg. Dies ist unter anderem der Fall, wenn er durch sein Verhalten besondere Gefahren schafft, die außer Verhältnis zu dem verfolgten Zweck stehen.

Daher müssen die Urteilsgründe die tatsächlichen Umstände, die seiner Entscheidung zugrunde lagen, erkennen lassen. Daran fehlt es hier. Den Urteilsausführungen ist lediglich zu entnehmen, dass der Betr. "in dienstlicher Eigenschaft einen vor ihm befindlichen Fahrzeugführer observierte". Feststellungen zur Bedeutung der Observation, der Schwere des Tatvorwurfs und zur Dringlichkeit der Fortsetzung des polizeilichen Auftrages fehlen.

Rechtlichen Bedenken begegnet das Urteil schließlich auch insoweit, als die Urteilsausführungen besorgen lassen, der Tatrichter habe dahingestellt sein lassen, ob dem Betroffenen Sonderrechte zugestanden haben, weil er diese jedenfalls nicht unter gebührender Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgeübt habe.

Denn § 35 Abs. 1 StVO befreit die Polizei ohne Einschränkung "von den Vorschriften dieser Verordnung". Das verkehrswidrige Verhalten eines Beamten, der berechtigt sein Sonderrecht in Anspruch nimmt, beurteilt sich daher - auch im Falle einer Gefährdung oder Schädigung anderer - allein nach §§ 35 Abs. 8, 49 Abs. 4 Nr. 2 StVO.

Der Senat hebt daher das angefochtene Urteil auf und verweist die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das AG zurück.

 

Anmerkung zu der vorgenannten Entscheidung:

 

Ein alltäglicher Sachverhalt

Das Kammergericht behandelt in der vorgenannten Entscheidung einen Sachverhalt wie er sich so oder ähnlich täglich im Straßenverkehr ereignen könnte: Ein Unfall während einer Einsatzfahrt, in deren Verlauf Sonderrechte (4) genutzt worden sind. Als Folge derart fehlgeschlagener Einsatzfahrten wird gegen den jeweiligen Einsatzfahrer regelmäßig ein bußgeldrechtliches Ermittlungsverfahren nach den Regeln des OWiG eingeleitet, das nicht selten mit dem Erlass eines Bußgeldbescheides abgeschlossen wird. Wenn dann der Einsatzfahrer - wie in diesem Fall geschehen - gegen den Bescheid den Rechtsbehelf des Einspruchs einlegt, gelangt das Verfahren zum Bußgeldrichter am Amtsgericht. Entscheidet der Richter dann gegen den Betroffenen, so gelangt ein Verfahren über das Rechtsmittel der Rechtsbeschwerde an den Bußgeldsenat eines Obergerichts wie z.B. an das Kammergericht Berlin.

Im Ergebnis stellten die Richter des KG gravierende Mängel in der Arbeitsweise des in dieser Sache zuvor tätigen Amtsrichters fest, in deren Folge die ganze Sache zur tatsächlichen und juristischen Nachbesserung zurückverwiesen wurde (5).

Die Nutzung von Sonderrechten durch die nach § 35 StVO berechtigten Organisationen ist eine tägliche Übung und birgt zahlreiche Fehlerquellen, die nicht selten zu schwerwiegenden Verkehrsunfällen führen (6). Um so dringender erforderlich ist eine in jeder Hinsicht klarstellende Auslegung der in § 35 festgeschriebenen Voraussetzungen für die Anwendung von Sonderrechten (7). Dem KG Berlin gelingt in seiner Entscheidung eine wichtige Klarstellung, die zukünftig für alle Nutzer von Sonderrechten zum Standardwissen zu zählen sein wird (8).

Durch die klarstellenden Bezüge zur praktischen Anwendung des § 35 gelten die vom KG angestellten allgemeinen Schlussfolgerungen neben der Polizei auch für sämtliche anderen in § 35 genannten Organisationen, die vollständig oder teilweise von den Vorschriften der StVO befreit sind.

Polizeiliche Observation mit Sonderrechten

Doch zunächst, der sachlichen Entscheidungsgrundlage wegen, einige Bemerkungen zur besonderen Bedeutung dieser Entscheidung für die Polizei.

Jeder operativ tätige Polizeibeamte kann bei seiner täglichen Arbeit in die Situation kommen, während einer Dienstfahrt von den Sonderrechten des § 35 Abs. 1 StVO Gebrauch machen zu müssen. Die polizeilichen Einsatzlagen sind in diesem Rahmen so vielfältig, dass eine Aufzählung den publizistischen Rahmen einer Anmerkung sprengen würde. Der vorliegende Sachverhalt hat die polizeiliche Tätigkeit einer Observationsfahrt zum Inhalt. Observationen sind etwa notwendig im Rahmen bereits anhängiger strafrechtlicher Ermittlungen, die über den Vorgang des Gewinnens personenbezogener Daten zur Überführung von verdächtigen Personen dienen sollen (9). Bei diesen Maßnahmen handelt es sich um planmäßig angelegte Beobachtungen von Personen, die entweder offen oder verdeckt durchgeführt werden. Im Rahmen dieser Fahrten kommt es für die eingesetzten Polizeibeamten, insbesondere aber für den Fahrer des Einsatzfahrzeugs, darauf an, den Kontakt zur observierten Person und deren Fahrzeug nicht zu verlieren. Es steht also - polizeitaktisch gesehen - im Vordergrund diese dienstliche Aufgabe, während die Fahrt durch den öffentlichen Verkehrsraum diesem Ziel untergeordnet ist. Da die anderen Verkehrsteilnehmer von den polizeilichen Gegebenheiten dieser Observationsfahrt natürlich keine Kenntnis haben können und deren vordringliche Zwecke auch nicht erahnen können (schließlich finden diese Fahrten zumeist mit zivilen Polizeifahrzeugen statt), liegen potenzielle Konfliktsituationen im Straßenverkehr nahe (10).

Das Tatbestandsmerkmal "hoheitliche Aufgaben"

Wichtig ist in diesem Zusammenhang allerdings regelmäßig schon die Vorfrage, ob während dieser speziellen Dienstfahrt ein hoheitliches Handeln im Sinne des § 35 Abs. 1 StVO vorliegt. Die Erfüllung einer hoheitlichen Aufgabe ist bekanntlich die erste Voraussetzung, die von den in § 35 Abs. 1 genannten Organisationen erfüllt werden muss, wenn sie Sonderrechte rechtmäßig nutzen wollen.

Bei einer Fahrt eines Polizeibeamten mit einem Dienstfahrzeug ist während der Dienstzeit jedoch regelmäßig von hoheitlichem Handeln auszugehen, da während einer normalen Streifenfahrt zumindest eine Verkehrsüberwachung (eine präventive Aufgabe) stattfindet.

Ein Beamter handelt während seines Dienstes potenziell stets in Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse (11), die sich in der Hauptsache aus den drei Bereichen des Strafrecht, des Ordnungswidrigkeitenrechts und des Polizeirechts ergeben können.

Ganz konkret bedeutet eine Observation im wesentlichen ein auf dem Legalitätsprinzip des § 163 StPO beruhendes strafverfahrensrechtliches Handeln der Polizeibeamten und damit ist in jedem Fall bei Observationsfahrten ein hoheitliches Handeln gegeben (12).

Diese Prüfungsroutine sollte allerdings nicht erst von einem Gericht zweiter Instanz ausgeübt werden, sondern bereits in den beiden zuvor stattfindenden Prüfungsinstanzen. So wird an diesem Fall deutlich, mit welchen Unsicherheiten in der Auslegung des § 35 StVO Bußgeldbehörden und Gerichte erster Instanz noch zu ringen haben. Daneben spielt dieser systematische Aufbau einer Prüfung der Rechtmäßigkeit des Gebrauchs von Sonderrechten aber auch eine Rolle für das innerdienstliche Handeln derjenigen Organisationen, die Sonderrechte nutzen dürfen. Kommt es nämlich während der Nutzung von Sonderrechten zu Verkehrsunfällen, so sind von den dienstlich vorgesetzten Personen regelmäßig ausführliche Stellungnahmen zum Vorfall zu fertigen. In deren Rahmen macht es sich gut, wenn die Systematik der Prüfung des § 35 StVO verstanden worden ist und in ein plausibles Gutachten umgesetzt werden kann. Dazu trägt die vorliegende Entscheidung des KG einen guten Teil bei.

Das Tatbestandsmerkmal "dringend geboten"

Mit dieser Antwort auf die Vorfrage über das Vorliegen einer hoheitlichen Aufgabe ist jedoch noch keine Aussage darüber getroffen, ob für den Einsatzfahrer ein Abweichen von den Vorschriften der StVO auch dringend geboten war. Nur wenn neben den "hoheitlichen Aufgaben" zugleich auch die zweite Voraussetzung "dringend geboten" erfüllt ist, liegt insgesamt eine berechtigte Inanspruchnahme von Sonderrechten vor, die als Rechtsfolge ein Abweichen von den Vorschriften der StVO zulässt.

Zum Anwendungsbereich des Tatbestandsmerkmals "dringend geboten" ist dabei zunächst mit Hentschel von den die Sonderrechte wahrnehmenden Einsatzfahrern zu fordern, dass es sich nicht nur um eine einfache Dienstfahrt von geringem sachlichen Gewicht handelt (13).

Ein weiteres Problem des Falles, das vom Bußgeldrichter am Amtsgericht offensichtlich nur unzureichend gewürdigt worden war, liegt hier in der praktischen Anwendung des Tatbestandsmerkmales "dringend geboten" auf die bekannt gewordene Handlungsweise des Einsatzfahrers.

Wenn sich ein erstinstanzliches Urteil zu diesem Thema ausschweigt und - wie vom KG festgestellt - keine näheren Angaben zum Zweck der Fahrt enthält, müssen diese fehlenden Angaben dem Betroffenen (in dubio pro reo) zunächst einmal mit vorläufiger Wirkung zugute gehalten werden. Es muss dann zunächst einmal davon ausgegangen werden, dass es sich bei dieser hinter der Dienstfahrt stehenden konkreten dienstlichen Aufgabe um eine solche überdurchschnittlichen Gewichts gehandelt hat.

 

Der Prüfungsmaßstab für Ordnungswidrigkeiten während der Einsatzfahrt

Nimmt der Einsatzfahrer die Sonderrechte rechtmäßig in Anspruch, führt diese Handlungsweise zunächst einmal zum Zwischenergebnis, dass die Verhaltensregeln der StVO während der Einsatzfahrt von dem rechtmäßigen Gebrauch der Sonderrechte überlagert, d. h. für den Einsatzfahrer de facto außer kraft gesetzt werden. Kommt es dennoch im Verlauf der Einsatzfahrt zu konkreten Gefährdungen oder gar Schädigungen anderer Personen, so ändern diese sichtbaren Ergebnisse in der Außenwelt nichts an der grundsätzlichen Rechtmäßigkeit des Gebrauchs von Sonderrechten.

Die Vorschrift des § 35 Abs. 1 StVO gilt in den Fällen einer rechtmäßigen Inanspruchnahme von Sonderrechten damit quasi als ein Rechtfertigungsgrund für ordnungswidriges Handeln gegen die Verhaltensvorschriften der StVO.

Damit ist jedoch noch keine Aussage darüber getroffen, wie weit dieser Rechtfertigungsgrund für jeden Einzelfall reicht. Denn konkrete Gefährdungen (Beinahe-Unfälle) und Schädigungen (Verkehrsunfälle mit Sachschäden und/oder Personenschäden) werden durch den rechtmäßigen Gebrauch der Sonderrechte keineswegs gerechtfertigt. Aber der Prüfungsmaßstab für diese Gefährdungen und Schädigungen verlagert sich von den allgemeinen Verhaltensvorschriften der StVO (etwa dem Rotlichtverstoß nach § 37 Abs. 2 StVO) weg und wird für diese Fälle allein vom Abs. 8 des § 35 StVO gebildet.

Danach dürfen die Sonderrechte nur unter gebührender Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gebraucht werden. Handelt der Einsatzfahrer dieser Norm entgegen, so bemisst sich der Unrechtsgehalt seiner Tat allein an der Ordnungswidrigkeit des § 35 Abs. 8 i.V.m. § 49 Abs. 4 Nr. 2 StVO.

Auf diese im Ergebnis bejahende Prüfung einer rechtmäßigen Inanspruchnahme von Sonderrechten folgt also erst in einem zweiten Schritt regelmäßig die Prüfung der rechtmäßigen Ausübung von Sonderrechten an Hand von § 35 Abs. 8 StVO.

Diesen Mechanismus hat das zunächst entscheidende Amtsgericht verkannt, obwohl diese Prüfung entscheidend ist für die Anwendung der richtigen Bußgeldvorschriften (14).

Hier stellt das KG nochmals klar, dass eine unberechtigte Inanspruchnahme von Sonderrechten gerade nicht die Rechtsfolge nach sich zieht, von der Vorschriften der StVO berechtigt abweichen zu dürfen. Im Ergebnis führt die unberechtigte Inanspruchnahme dann zur Anwendung der allgemeinen Bußgeldtatbestände, so dass ein derart handelnder Einsatzfahrer nach denjenigen Verhaltensvorschriften zu verurteilen wäre, gegen die er während seiner Einsatzfahrt (unberechtigt) verstoßen hatte.

Bestehen wie im vorliegenden Fall Unklarheiten über die rechtmäßige Inanspruchnahme von Sonderrechten, so müssen diese Unklarheiten zunächst vom Gericht vollständig ausgeräumt werden. Ist dies nicht geschehen, dürfen diese Fehler in der Ermittlung jedenfalls nicht dem Einsatzfahrer angelastet werden.

Einsatzfahrer haben einen Beurteilungsspielraum

Doch auch in anderer Hinsicht entscheidet das KG praxisnah und im Ergebnis einsatzfreundlich.

Einsatzfahrer müssen während einer Fahrt unter Inanspruchnahme von Sonderrechten ständig verschiedene Faktoren gegeneinander und miteinander abwägen. Sie müssen nicht nur den Verkehrsfluss ständig beobachten, das Verhalten der anderen Verkehrsteilnehmer und deren Vorrang- und Vorfahrtrechte spielen eine ebenso große Rolle in der Beurteilung einer Sonderrechtsfahrt. Gleichzeitig müssen die Polizeibeamten (wie auch die Einsatzfahrer aller anderen berechtigten Organisationen) aber auch innerhalb von Sekunden und manchmal Sekundenbruchteilen entscheiden, wie weit sie sich im einzelnen von den geltenden Regeln der StVO entfernen können, um im Ergebnis noch sicher und verhältnismäßig zu handeln.

Genau diesen komplexen Handlungs- und Denkprozess meint das KG, wenn es dem Einsatzfahrer einen Beurteilungsspielraum über die Entscheidung zugesteht, einen von ihm ausgehenden Verkehrsvorgang als noch zur Erfüllung seiner hoheitlichen Aufgabe dringend geboten anzusehen. Insoweit erweitert das KG die dem Einsatzfahrer zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen, indem es den handelnden Beamten in ihrer besonderen Fahrsituation erlaubt, die Grenzen der tatsächlich vorhandenen Eilbedürftigkeit in einem Spielraum auszuloten, dessen äußerste Grenze allerdings dann überschritten ist, wenn der Einsatzfahrer unverhältnismäßig große Gefahren für andere Verkehrsteilnehmer schafft.

In diesem Beurteilungsprozess kann letztendlich ein Einsatzfahrer den Gebrauch von Sonderrechten sogar dann subjektiv als dringend geboten für seine hoheitliche Aufgabe ansehen, wenn er auch ohne die Sonderrechte seine Aufgabe hätte erfüllen können. Allerdings darf bei dieser fehlerhaften Bewertung keine Gefahr oder Schädigung für andere Personen vorliegen, da in diesen Fällen der Beurteilungsspielraum im Ergebnis überdehnt worden wäre.

Weitere Konsequenzen aus dieser Entscheidung

Aus Sicht der Einsatzfahrer aller nach § 35 StVO berechtigten Organisationen und ihrer übergeordneten Dienststellen sind einige weitere wichtige Schlussfolgerungen aus der Entscheidung zu ziehen.

Für Einsatzfahrer gilt, dass sie sich zunächst einmal darüber im klaren sein müssen, ob sie rechtmäßig Sonderrechte in Anspruch nehmen dürfen. Sie müssten im Hinblick auf diese Entscheidungen nach der weitestgehend unproblematischen Feststellung hoheitlichen Handelns im Einzelfall entscheiden, ob für den Zweck ihrer Dienstfahrt ein Abweichen von den Vorschriften der StVO dringend geboten ist. Diese Entscheidung fällt erfahreneren Beamten i.d.R. wesentlich leichter als unerfahrenen Berufsanfängern. Vorgesetzten Beamten fällt es in dieser Sachlage als Aufgabe zu, ihre nachgeordneten Mitarbeiter von ihrem Erfahrungswissen profitieren zu lassen und z. B. zu Schulungszwecken einen entsprechenden Katalog über dienstliche Situationen zu erarbeiten, die den Gebrauch von Sonderrechten nahe legen.

Damit jedoch noch nicht genug. Auch für den rechtmäßigen Einsatz von Sonderrechten muss es unter den Kollegen zu einem regen Erfahrungsaustausch über die Frage kommen, in welchem Rahmen bei einer Sonderrechtsfahrt die öffentliche Sicherheit und Ordnung gebührend berücksichtigt werden kann.

Werden die Entscheidungen rund um den Gebrauch von Sonderrechten transparenter und somit für die weniger erfahrenen Kollegen leichter nachvollziehbar, so könnte es über die nachfolgend gestiegene Sensibilität für das Thema zu deutlich weniger Gefahrensituationen im dienstlichen Alltag kommen.

Das richtige Verhalten während einer Einsatzfahrt muss sowohl von den Einsatzkräften als auch von der Führungskräften ständig trainiert werden. Dazu bedarf es ständig wiederkehrender Fortbildungsbemühungen, die in systematisch aufgebauten Fortbildungsveranstaltungen münden sollten. In deren Vordergrund sollte nicht nur das richtige Handling der Fahrzeuge im Vordergrund stehen, sondern insbesondere auch die rechtlichen Voraussetzungen von Einsatzfahrten entsprechend eingeübt werden. Dabei würde es sich gut machen, wenn an Hand von erkannten Fehlern aus dem konkreten Fall gelernt würde.

Übergeordneten Polizeibehörden würde es allerdings obliegen, mittels ihres übergreifenden Erfahrungswissens die notwendigen Schulungsmaßnahmen verantwortungsbewusst und weit vorausschauend zu steuern.

Dabei wird es für das grundsätzliche Problem möglicher Gefährdungen bei Einsatzfahrten in keinem Fall genügen, die Dienstkraftfahrzeuge lediglich mit Unfalldatenspeichern (UDS) nachzurüsten (15).

 

Randnummern:

(1) Vgl. dazu den Wortlaut des Beschlusses in VRS 99, 223 ff. (= NZV 2000, 510). Sachverhalt und Gründe sind der veröffentlichten Entscheidung aus der Verkehrsrechtssammlung entnommen, jedoch unter Verzicht auf die dort vom KG genannten Rechtsprechungshinweise und Literaturangaben.

(2) Vgl. dazu das in vielerlei Hinsicht gut gelungene einschlägige Themenheft "Verfolgungsfahrten", DPolBl 2/98.

(3) Vgl. zu diesem Thema auch den Aufsatz des Verfassers "Unfallrisiko Einsatzfahrt", in: Kriminalistik 4/2001.

(4) Sonderrechte sind die an bestimmte Organisationen vergebenen und an konkrete Einsatzsituationen gebundenen Befreiungsmöglichkeiten von den Regeln der StVO; vgl. dazu jetzt auch die neue Kommentierung zu § 35 StVO von Müller, Dieter, in: StVO-aktuell (Stand März 2001), Verlag Heinrich Vogel, ISBN 3-574-25530-6.

(5) Es sei an dieser Stelle nicht verschwiegen, dass derart mangelhafte juristische Arbeit von praktisch unerfahrenen Richtern an unteren Instanzen (zumeist Richter auf Probe während ihrer praktischen Bewährungszeit) den Staat und seine Steuerzahler jährlich erkleckliche Summen Geldes kosten, die an anderer Stelle (etwa in der Verkehrssicherheitsarbeit) sinnvoller einzusetzen wären.

(6) Allgemein zu den Risiken bei Sondersignaleinsätzen siehe die Untersuchung von Unterkofler, Manfred/Schmiedel, Reinhard, Verbesserung der Sicherheit bei Sondersignaleinsätzen, Bericht zum Forschungsprojekt 8933 der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt), Bergisch Gladbach 1994.

(7) Siehe dazu Müller, Dieter, StVO-aktuell, § 35.

(8) Das KG schließt sich bei seiner aktuellen Entscheidung im Ergebnis einem Beschluss des BayObLG aus dem Jahr 1983 (VRS 64, 143 ff.) sowie einem eigenen Beschluss aus dem Jahr 1985 (VRS 68, 299 ff.) an.

(9) Zur polizeirechtlich begründeten Observation näher Wagner, Erwin/Ruder, Karl-Heinz, Polizeirecht, Baden-Baden 1999, Rn. 386, sowie Waechter, Kay, Polizei- und Ordnungsrecht, Baden-Baden 2000, Rn. 614 ff.

(10) Dass während Observationsfahrten die eingesetzten Polizeibeamten auch (hausgemachte) Probleme mit der Beherrschung ihres eigenen Fahrzeugs haben können, zeigt der kuriose, aber in den Unfallfolgen glücklicherweise eher harmlose Fall des Hessischen VGH in VRS 76, 59 ff. Hier kam es während einer Observationsübung zu einem Sachschaden am Polizeifahrzeug, weil der Fahrer versuchte, während der Fahrt eine Karte zu lesen und dabei dem Beifahrer das Lenken überließ.

(11) Zu diesem so genannten Funktionsvorbehalt näher der nützliche Taschenkommentar von Seifert, Karl-Heinz/Hömig, Dieter, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art. 33 Rn. 9.

(12) Die hoheitliche Aufgabe ist selbstverständlich auch bei polizeirechtlich begründeten Observationsfahrten gegeben.

(13) Hentschel, Peter, Straßenverkehrsrecht, 36. Aufl. 2001, § 35 StVO Rn. 5. So etwa die einfache Transportfahrt eines Tatverdächtigen in das Polizeigewahrsam.

(14) Zuvor fand jedoch offensichtlich bereits eine gleichlautende Fehleinschätzung durch die Bußgeldstelle statt. Erst mit dem Einspruch des Betroffenen gelangte das Verfahren zum Amtsrichter.

(15) Diese Ausrüstungsmaßnahme vermag jedoch auch ihren Teil zur Problemlösung beitragen. Über eine mittels UDS verbesserte Dokumentation des Unfallgeschehens sind eingetretene Schadensfälle erheblich aussagekräftiger zu rekonstruieren, als es bei einer Beweiswürdigung ausschließlich an Hand der objektiven Unfallfolgen sowie durch subjektiv geprägte Zeugenaussagen der Fall wäre.

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