Art der Veröffentlichung: Rezension einer gerichtlichen Entscheidung (Fassung unten = vollständiges Manuskript der später gekürzten Veröffentlichung)

Ort der Veröffentlichung: Neues Polizei Archiv (NPA), Heft 11/1998 Nr. 301

Prüfung der Schuldunfähigkeit bei Trunkenheitsfahrt

 

S a c h v e r h a l t :

Eine Zahnarzthelferin aus Nordrhein-Westfalen fuhr im August 1996 unter Einfluss von Alkohol und Medikamenten, obwohl sie absolut fahruntüchtig war. In diesem Zustand fiel sie der Besatzung eines Streifenwagens auf, weil sie zu einem verkehrsbedingt haltenden Fahrzeug einen übergroßen Abstand ließ. Der nachfolgende Alcotest ergab einen Wert von 4,17 %o. Auf der Fahrt zum Polizeirevier äußerte sich die Frau verständlich und reagierte auf Fragen mit inhaltlich sinnvollen Antworten. Die Blutprobe ergab eine BAK zur Tatzeit von 4,11 %o.

Der Strafrichter beim AG verurteilte die Angeklagte wegen Vollrausches zu einer Geldstrafe und sah von der Anordnung einer Maßregel nach §§ 69, 69 a StGB ab. Die StA ging in Berufung, woraufhin die Strafkammer beim LG Düsseldorf wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr verurteilte, die Fahrerlaubnis entzog, den Führerschein einzog und eine Sperrfrist für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis aussprach.

Auf die Revision der Angeklagten hob das OLG Düsseldorf das Urteil des LG in Folge der Verletzung sachlichen Rechts auf und verwies die Sache zurück in die Vorinstanz.

Strafgesetzbuch - StGB - § 20, 21, 316

Zu den erforderlichen Feststellungen zur Schuldfähigkeit des Täters in dem tatrichterlichen Urteil im Falle der Verurteilung wegen Trunkenheit im Verkehr bei einer für die Tatzeit ermittelten Blutalkoholkonzentration von 4,11 %o.

OLG Düsseldorf (Beschluss v. 18.5.1998 - 5 Ss 118/98 – 29/98 I Verlags-Archiv Nr. 301)

A u s d e n G r ü n d e n :

Die von der Angeklagten erhobene Sachrüge greift durch.

Das amtsgerichtliche Urteil bildet keine hinreichend verlässliche Grundlage für die Zumessung der Rechtsfolgen. Es fehlt die Feststellung der Schuldform. Allein die Höhe des festgestellten Blutalkoholgehalts rechtfertigt nicht den Schluss, die Angeklagte habe sich vorsätzlich berauscht. Denn es gibt keinen Erfahrungssatz dahin, dass bei Genuss von Alkohol in einer Menge, die zu einem Blutalkoholwert von mehr als 3 %o führt, stets auf vorsätzliche Herbeiführung des Rauschzustandes durch den Täter geschlossen werden kann, jedenfalls sofern dieser

alkoholgewöhnt ist und die Wirkung von Alkohol kennt. Die Schuldform ist aber für die Zumessung der Rechtsfolgen von maßgeblicher Bedeutung. Fehlt ihre Angabe, so kann die Entscheidung nicht als hinreichende Nachprüfungsgrundlage angesehen werden.

Die Revision der Angeklagten ist aufgrund der erhobenen Sachrüge begründet, weil die Beweiswürdigung der Strafkammer zur Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Beschwerdeführerin zur Tatzeit nicht frei von Mängeln ist.

Es entspricht der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass nach wissenschaftlichen Erkenntnissen auch bei einer Blutalkoholkonzentration von mehr als 3 %o weder stets noch regelmäßig Schuldunfähigkeit vorliegt. Vielmehr hat der Tatrichter nach dieser Rechtsprechung bei der Prüfung, ob bei alkoholisierten Straftätern die Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB erfüllt sind, neben der festgestellten (oder errechneten) Blutalkoholkonzentration alle wesentlichen objektiven und subjektiven Umstände, die sich auf das Erscheinungsbild und das Verhalten des Täters vor, während und nach der Tat beziehen, zu beurteilen und gegeneinander abzuwägen. Zu berücksichtigen sind bei dieser umfassenden Abwägung auch eine bei dem Täter bestehende Alkoholgewöhnung oder Alkoholabhängigkeit mit der sich daraus ergebenden Alkoholtoleranz.

Der Tatrichter muss seine Überzeugungsbildung im Urteil so vollständig darlegen, dass das Revisionsgericht, dem eine eigene Beweisaufnahme verwehrt ist, anhand des Urteils nachprüfen kann, ob die Grenzen der Beweiswürdigung eingehalten sind.

Der Tatrichter des angefochtenen Urteils setzte sich zunächst nicht erschöpfend mit dem Verhalten der Angeklagten nach der Tat auseinander. Es wird nicht mitgeteilt, welche Fragen der Beamte der Angeklagten stellte und wie bzw. in welcher Weise sie im einzelnen darauf antwortete. Der Senat vermag deshalb die von der Strafkammer vorgenommene Bewertung weder nachzuvollziehen noch zu überprüfen, ob die Angeklagte tatsächlich mit inhaltlich sinnvollen Antworten auf die Fragen des Beamten reagierte. Im Hinblick auf die gewichtige indizielle Bedeutung eines solchen Verhaltens für die Beurteilung der Schuldfähigkeit der Angeklagten zur tatrelevanten Zeit war dies aber unerlässlich.

Unzureichend sind ferner die Darlegungen der Strafkammer zu der Frage, ob und inwieweit die Angeklagte an den Konsum von Alkohol gewöhnt war und ob möglicherweise bei ihr zur Tatzeit eine Alkoholabhängigkeit bestand. Nähere Ausführungen bzw. Feststellungen hierzu fehlen, insbesondere zum Trinkverhalten, zu Art, Menge und Zeitdauer des Alkoholkonsums sowie zu dessen Auswirkungen auf die Angeklagte. Die Mitteilung dieser Umstände war aber unentbehrlich, weil nach derzeitigem medizinischem Kenntnisstand die akute Alkoholintoxikation gerade bei sehr hohen Blutalkoholwerten die Leistungsfähigkeit trinkgewöhnter oder alkoholabhängiger Personen weitaus weniger beeinträchtigt als die von Gelegenheitskonsumenten. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kommt der Leistungsfähigkeit des alkoholisierten Straftäters bei der Prüfung der Frage, ob die Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB erfüllt sind, erhebliches indizielles Gewicht zu.

Ein weiterer rechtlicher Mangel des angefochtenen Urteils liegt schließlich darin, das es zwar das Ergebnis des in der Berufungshauptverhandlung erstatteten Gutachtens zur Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Angeklagten zur Tatzeit mitteilt, die ihm zugrunde liegenden Erwägungen und Darlegungen des Sachverständigen aber unerwähnt lässt.

Eine Änderung des Schuldspruchs dahingehend, dass die Angeklagte sich lediglich fahrlässig in einen Rauschzustand versetzt hat, kommt nicht in Betracht. Es ist nicht auszuschließen, dass in einer neuen Hauptverhandlung weitere Feststellungen zur Frage der Schuldfähigkeit getroffen werden, die deren Fortbestand trotz der hochgradigen Alkoholisierung zweifelsfrei belegen.

A n m e r k u n g :

Das Oberlandesgericht Düsseldorf behandelt in seinem Beschluss mit der Frage der Schuldfähigkeit bei Alkoholdelikten im Straßenverkehr eine Thematik des materiellen Strafrechts. Die praktische Bedeutung der Entscheidung für die Polizei liegt in der näheren Differenzierung der erforderlichen polizeilichen Ermittlungen zur inneren Tatseite von Alkoholdelikten im Straßenverkehr. Die konkreten polizeilichen Ermittlungserfordernisse lassen sich dabei einerseits indirekt aus den prozessualen Anforderungen ablesen, die das OLG an die Verhandlung von Trunkenheitsdelikten an ihre beiden Vorinstanzen stellt. Andererseits werden die polizeilichen Ermittlungen auch direkt beeinflusst durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zur Frage der Schuldfähigkeit bei Alkoholdelikten, auf die das OLG in seinem Beschluss mehrfach direkten Bezug nimmt.

Wie es schon in der jüngeren Vergangenheit häufiger der Fall war, musste nun auch das OLG Düsseldorf feststellen, dass erst- und zweitinstanzliche Strafgerichte die innere Tatseite der von ihnen behandelten Delikte nicht sorgfältig genug ermitteln.

Zunächst wird bei der Würdigung des strafrichterlichen Urteils der ersten Instanz deutlich, dass es sich der Richter in der materiell-rechtlichen Würdigung der Tat sehr einfach gemacht hat, indem er aus dem extrem hohen Promillegehalt der Blutprobe auf ein Vorliegen des Tatbestandes des Vollrausches geschlossen hatte. Mit dieser kurzsichtigen Würdigung hatte der Richter das Delikt der Trunkenheitsfahrt aus seinem Prüfungsrahmen ausgeblendet und es damit vermieden, zum Problemkreis Entziehung der Fahrerlaubnis entscheiden zu müssen. Vollkommen unverständlich ist allerdings, dass im erstinstanzlichen Urteil keinerlei Aussage über die Begründung der vorliegenden Schuldform getroffen wird. Dabei sollte sich – wie das OLG zu Recht anmahnt – nun gerade unter Strafjuristen wirklich allmählich herumgesprochen haben, dass der BGH seine frühere Rechtsprechung, wonach einem hohen Promillegehalt indizielle Wirkung im Hinblick auf Schuldunfähigkeit beigemessen werden kann, schon seit geraumer Zeit aufgegeben hat.

Das zweitinstanzliche Landgericht hält sich zwar an diese herrschende höchstrichterliche Rechtsprechung, lässt demgegenüber aber in seinem Urteil einige Wünsche hinsichtlich der Ermittlung und Begründung der inneren Tatseite der zutreffend entschiedenen Verurteilung nach einer Trunkenheitsfahrt offen. Insbesondere beachtete die Strafkammer nicht das sich aus dem extrem hohen Promillewert an sich aufdrängende praktische Problem, ob es sich bei der Angeklagten um eine alkoholkranke und damit an die Wirkung des Alkohols überproportional

gewöhnte Person handelte. Aber auch die im Urteil getroffenen Feststellungen hinsichtlich des Verhaltens der Angeklagten vor, während und nach der Tat genügten nicht den sachlichen Anforderungen an ein rechtmäßiges Strafurteil, weil in diesem Zusammenhang zu oberflächlich verhandelt und geurteilt wurde.

An diesem Punkt nun wird die große praktische Bedeutung des Beschlusses für die polizeiliche Arbeit im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren deutlich. Werden Polizeibeamte im Rahmen der Ermittlung von Alkoholstraftaten im Straßenverkehr tätig, so werden sie künftig verstärkt darauf achten müssen, die innere Tatseite der von ihnen bearbeiteten Taten sorgfältiger zu ermitteln, als dies vielleicht in der Vergangenheit der Fall gewesen ist. War zum Beispiel in der Vergangenheit bei hohen Promillewerten im Alcotest – und es liegen direkt nach der Tat keine anderen verlässlichen Daten zur Fahruntüchtigkeit vor – oft von einer vorsätzlichen Begehensweise ausgegangen worden, so bedarf diese Ermittlungspraxis nunmehr einer durchgreifenden Änderung. Zukünftig müssen von den ermittelnden Beamten nähere Feststellungen darüber getroffen und zu Papier gebracht werden wie sich die Beschuldigten vor, während und nach der Tat verhalten haben. Beamte müssen daher in Zukunft noch aufmerksamer als bisher die Tatverdächtigen beobachten, befragen und in deren Umfeld ermitteln, um den

gesteigerten Anforderungen der Rechtsprechung gerecht werden zu können. Diesen Erfordernissen zu genügen, wird mehr Zeit beanspruchen, wobei die politische Frage nach den erforderlichen objektiven Rahmenbedingungen polizeilicher Ermittlungsarbeit im Strafverfahren (Dienststärke, Spezialausbildung) an dieser Stelle nur angedeutet werden kann.

Im Rahmen der polizeilichen Aus- und Fortbildung dürften die gesteigerten Anforderungen jedenfalls nicht undiskutiert bleiben.

Hochschuldozent Dieter Müller, Rothenburg/Oberlausitz

© www.sichereStrassen.de