Art der Veröffentlichung: Rezension einer gerichtlichen Entscheidung (Fassung unten = vollständiges Manuskript der später gekürzten Veröffentlichung)

Ort der Veröffentlichung: Neues Polizei Archiv (NPA), Heft 3/2003 Nr. 334

 

Strafrechtliche Verantwortlichkeit für Folgeunfall

S a c h v e r h a l t:

Ein Autofahrer befuhr eine Bundesautobahn und kollidierte bei einsetzender Dunkelheit in Folge eines Fahrfehlers mit einen anderen Fahrzeug. Er blieb mit seinem PKW am linken Rand der Überholspur beschädigt liegen. Einige Zeit später fuhr ein dritter Verkehrsteilnehmer auf das Unfallfahrzeug auf und erlitt bei diesem Unfall tödliche Verletzungen.

Zwischen dem Erstunfall und dem Zweitunfall lagen im äußersten Fall fünf Minuten.

Die Absicherung der Unfallstelle war bis zu diesem Zeitpunkt durch andere Verkehrsteilnehmer übernommen worden, die jedoch die Unfallstelle nur unvollständig und auf den rechten Fahrbahnrand beschränkt absicherten.

Im Zuge der Ermittlungen gegen den Fahrzeugführer verneinte die Staatanwaltschaft eine Pflicht des Beschuldigten, sein beschädigtes Fahrzeug von der Fahrbahn zu entfernen von vornherein. Sie stellte deshalb das gegen ihn laufende Ermittlungsverfahren ein.

Im Wege der Klageerzwingung gelangte das Verfahren auf Betreiben der Geschädigten zum ersten Strafsenat des OLG Zweibrücken. Der Strafsenat ordnete die Anklage der zuständigen Staatsanwaltschaft gegen den Beschuldigten wegen fahrlässiger Tötung an.

StGB § 222

Der Ursachenzusammenhang zwischen einem Erst– und einem zeitlich unmittelbar darauf folgenden zweiten Verkehrsunfall wird nicht unterbrochen, wenn die nachfolgende Kollision und der damit verbundene Tod des Unfallopfers, unabhängig von dessen etwaigen Eigenverschulden, dem Beschuldigten als vorhersehbare Folge

seines Fahrfehlers zugerechnet werden kann. (Leitsatz des Verfassers)

Oberlandesgericht Zweibrücken (Beschl. v. 9.07.2002 – 1 Ws 244/02 – Verlags-Archiv Nr. 334)

A u s d e n G r ü n d e n :

Der Senat beanstandet, dass die Staatsanwaltschaft eine Pflicht des Beschuldigten, sein beschädigtes Fahrzeug von der Fahrbahn zu entfernen, von vornherein verneint. Die ergänzenden Ermittlungen haben unter anderem ergeben, das nur wenige, im äußersten Fall fünf Minuten zwischen Erstunfall und dem Auffahren des tödlich Verunglückten lagen und die Absicherung der Unfallstelle durch andere Verkehrsteilnehmer bis dahin nur unvollständig und auf dem rechten Fahrbahnrand beschränkt durchgeführt worden waren. Nach Auffassung des Senats wurde deshalb der Ursachenzusammenhang zwischen Erst und Folgeunfall nicht unterbrochen, sodass die nachfolgende Kollision und damit der Tod des Unfallopfers, unabhängig von dessen etwaigen Eigenverschulden, dem Beschuldigten als vorhersehbare Folge seines Fahrfehlers zugerechnet werden kann. Aus diesem Grund ist die Anklage durch die zuständige Staatsanwaltschaft gegen den Beschuldigten wegen fahrlässiger Tötung anzuordnen.

A n m e r k u n g:

Als Grundlage für den vorliegenden Beschluss des OLG Zweibrücken dient ein Strafverfahren in Sachen einer fahrlässigen Tötung. Der Strafsenat hatte Anlass zu einer Überprüfung einer staatsanwaltschaftlichen Einstellungsverfügung. Im Rahmen dieser Überprüfung stellte das Gericht fest, das in der Rechtsauffassung Unterschiede zwischen Staatanwaltschaft und Senat bestanden. Probleme bestehen in der Auslegung der umstrittenen Dogmatik dieses Fahrlässigkeitsdelikts.

Bekanntlich wird bei den beiden Fahrlässigkeitsdelikten §§ 222, 229 StGB die Kausalität zwischen der Sorgfaltspflichtverletzung (z. B. einem Verstoß gegen eine Verhaltensvorschrift aus der StVO) und dem zeitlich darauf folgenden tatbestandlich eingetretenen Erfolg (Tod oder Verletzung eines Menschen) als sogenannter Pflichtwidrigkeitszusammenhang geprüft. Dieser Zusammenhang hat auch eine zeitliche Komponente. D. h. je größer die zeitliche Differenz den Sorgfaltspflichtverletzung und den tatbestandlich eingetretenen Erfolg liegt, desto eher besteht die Wahrscheinlichkeit, dass kein ursächlicher Zusammenhang zwischen Sorgfaltspflichtverletzung und Taterfolg besteht. Für diese zeitliche Differenz gibt es allerdings keine feststehenden Werte, die etwa bei Überschreiten zu einem Kausalitätsausschluss führen würden. Tritt allerdings in dem zeitlichen Abstand zwischen der Sorgfaltspflichtverletzung und dem Erfolg eine neue Ursache (z. B. ein eigener Verkehrsverstoß des späteren Geschädigten) an die Stelle der ersten möglichen Ursache, so muss im Rahmen der polizeilichen Ermittlungen entschieden werden, ob die ursprüngliche Sorgfaltspflichtverletzung tatsächlich noch ursächlich für den eingetretenen Erfolg ist.

An dieser Stelle wird die besondere Aufgabe der Polizei im Rahmen der Ermittlung der Unfallursachen und des Unfallgeschehens deutlich. In diesem Zusammenhang ist es von der Ermittlung der Tatsachenlage her besonders wichtig, auch die Zeitpunkte der jeweiligen Einzelereignisse des Unfallablaufs genau herauszufinden und im Protokoll festzuhalten. Diese Zeitpunkte ergeben sich bei taktisch geschickter Vorgehensweise aus den Vernehmungen von Zeugen und Beschuldigten vor Ort des Unfallgeschehens oder in den Tagen danach. Regelmäßig werden Zeugen und Beschuldigte jedoch keinen Blick auf ihre Uhr werfen, während sie in ein Unfallgeschehen verwickelt sind. Also ist es für die vernehmenden Polizeibeamten notwendig, die während des Unfallgeschehens maßgeblichen Zeitabstände abzufragen. Dies kann etwa dadurch geschehen, dass Worte und Redewendungen wie z. B. "wenige Sekunden später", "einen Augenblick danach" o. ä. als Ermittlungsansätze für zeitliche Abstände näher hinterfragt werden. Hier zeigt sich ein gutes Vernehmungsgeschick der jeweiligen Beamten, das auf Orts- und Tatsachenkenntnissen gegründet ist. Es gilt dabei, diese vagen zeitlichen Begriffe in einen Geschehensablauf des Gesamtgeschehens für Staatsanwaltschaft und Gericht stimmig und nachvollziehbar einzuordnen. Als Anhaltspunkte können hier markante Punkte (z. B. Waldlichtung, Brücke, Straßenlaterne, Autobahnabfahrt) am Ort des Unfallgeschehens dienen, an die sich insbesondere Zeugen erinnern könnten.

Im vorliegenden Fall war es daher wichtig, den Zeitraum zwischen Erstunfall und Folgeunfall auszufüllen. Dies gelang offensichtlich gut, indem auf die Wahrnehmung der Sicherungspflichten durch die anderen Verkehrsteilnehmer in den Ermittlungen näher eingegangen wurde. Dadurch, dass der Erstunfall nicht korrekt und vor allem nicht durch den Unfallverursacher abgesichert worden war, wirkte dessen Fehlverhalten fort bis zum tödlichen Auffahrunfall durch das Unfallopfer. Damit ergaben die polizeilichen Ermittlungen, dass das Kausalgeschehen nicht wirksam unterbrochen worden war und den Unfallverursacher des Erstunfalls die strafrechtliche Verantwortlichkeit traf.

Die Entscheidung des OLG Zweibrücken ist auch noch unter einem anderen Aspekt sehr lehrreich. Dadurch, dass der Senat ebenfalls auf das Tatbestandskriterium der Vorhersehbarkeit eingeht, wird auch noch ein weiterer notwendiger Ermittlungsansatz der beiden genannten Fahrlässigkeitsdelikte sichtbar. Es gilt nämlich aus Sicht der Polizeifestzustellen, dass das konkrete Unfallgeschehen mit der tödlichen Unfallverletzung unter dem Aspekt der Sorgfaltspflichtverletzung mit einer hohen Wahrscheinlichkeit vorhersehbar gewesen ist. An diesem Punkt kommt es im Rahmen der polizeilichen Ermittlungen insbesondere auf die erworbenen dienstlichen Kenntnisse und die persönliche Lebenserfahrung der ermittelnden Beamten an. Im vorliegenden Fall lag es an den aufnehmenden Beamten, dem Gericht gegenüber darzustellen, dass mittels der durch den Unfallverursacher des Erstunfalls vernachlässigten Absicherungspflichten (Verstoß gegen § 34 Abs. 1 Nr. 2 StVO) eine objektiv vorhersehbare Ursache für den nachfolgenden Auffahrunfall gesetzt worden war.

Polizeibeamte sollten sich dabei genau über die Tatsache im Klaren sein, dass es von der Qualität ihrer Ermittlungen abhängig ist, wie genau die Anklageschrift oder der Strafbefehl der Staatsanwaltschaft formuliert werden kann. Oft sind es gerade lückenhafte Unfallaufnahme- und Vernehmungsprotokolle bzw. Lücken in der Ermittlungskette, die für Staatsanwälte sowie Richter nicht nachvollziehbar sind und sich in vielen gerade witterungsbedingten Fällen auch nicht durch spätere Nachermittlungen ersetzen lassen. Diese Fehler führen nicht selten zu Verfahrenseinstellungen bzw. Freisprüchen mangels Beweises, die insbesondere für die Unfallopfer und ihre Hinterbliebenen tragische Ausmaße annehmen können.

Prof. Dr. Dieter Müller, Bautzen

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