Der psychologische und psychiatrische Sachverständige
im Strafverfahren
Günther Tondorf
als Band 30 aus der Reihe "Praxis der Strafverteidigung", hrsg.
von Josef Augstein(+), Werner Beulke und Hans-Ludwig Schreiber C.F. Müller,
Hüthig Fachverlage, Heidelberg, 2002, ISBN 3-8114-0876-3, 187 Seiten, kartoniert,
39,90 €
gelesen und bewertet von Prof. Dr. jur. Dieter Müller,
Bautzen
Die ohnehin schon verantwortungsvolle Tätigkeit der
Verteidigung eines Mandanten im Strafverfahren wird komplizierter, wenn eine
Schuldunfähigkeit oder verminderte Schuldfähigkeit gem. §§ 20, 21
StGB bzw. eine Kriminalprognose in der Diskussion ist. Schwierig bis nicht mehr
beherrschbar wird diese prozessuale Situation aus Verteidigersicht immer dann,
wenn sich junge, unerfahrene Strafverteidiger plötzlich mit Prozesssituationen
konfrontiert sehen, die sie weder in ihrer juristischen Ausbildung erlernt noch
jemals erlebt haben. Spätestens an diesem Punkt rächt sich eine einseitige
Juristenausbildung, in deren Rahmen interdisziplinäres Denken und Handeln
aus Sicht der Fakultät ein Fremdkörper geblieben ist bzw. aus Sicht
träger Studiosi als unnötiger Wissensballast ignoriert wurde. Da jedoch
über jeden Strafverteidiger überraschend die Situation hereinbrechen
kann, einen Mandanten verteidigen zu müssen, der zumindest zum Zeitpunkt
seiner Tat vermindert schuldfähig bzw. sogar schuldunfähig gewesen
ist, besteht die zwingende Notwendigkeit, auf diese Situationen entsprechend
vorbereitet zu sein. Sicherlich ist eine interaktive Fortbildungsveranstaltung,
bei der ein fruchtbarer Austausch mit erfahreneren Kollegen möglich ist,
die grundsätzlich beste Variante, Wissenslücken auszugleichen. Allerdings
besteht nicht immer sofort die Möglichkeit zu einer solch kompetenten Nachschulung
mit notwendiger Kompensation von Ausbildungsdefiziten. In den meisten Fällen
sind es junge Berufsanfänger, die sich gerade eben erfolgreich in die Liste
der Pflichtverteidiger bei dem für sie zuständigen Gericht haben eintragen
lassen und nun auf ihre ersten Mandate warten, deren einschlägige Wissenslücken
dringend gefüllt werden müssen. Besser wäre es zwar, wenn es
vor der Erkenntnis dieser Fortbildungsnotwendigkeit noch keinen Fauxpas auf
dem öffentlichen Parkett des Gerichtssaals gegeben hätte, aber auch
wenn dem so geschehen wäre, ist es nie zu spät, Wissenslücken
mittels profunder Hilfe auszugleichen. Der jüngste Band aus der bekannten
und bewährten Reihe "Praxis der Strafverteidigung" ist ein solches
Hilfsmittel. Verfasst wurde das handliche Werk in seiner Erstauflage von einem
Autor, der sowohl in der Theorie (als erfahrener Hochschullehrer) als auch in
der Praxis (als versierter Strafverteidiger) fachlich beschlagen ist und darüber
hinaus als Fortbildungsdienstleistender über die didaktischen Kenntnisse
verfügt, sein reiches Wissen auch auf adäquate Weise vermitteln zu
können. Sein Thema ist auch und ganz besonders der Umgang zwischen Volljuristen
auf der einen und forensisch tätigen Psychiatern und Psychologen auf der
anderen Seite. Zielbewusst verortet der Autor Probleme in diesem ganz besonderen
Verhältnis in den Dimensionen der jeweiligen beruflichen Qualifikation
und der zwischenmenschlichen Kommunikation. Sein Schlüssel für die
Lösung dieses gordischen Knotens ist sein lobenswerter Ansatz eines interdisziplinären
Diskurses. In der Tat bedeutet die Tatsache, dass zwischen den beteiligten Akteuren
in einem Strafprozess nur selten auf Anhieb "die gleiche Sprache"
gesprochen wird, eine prozessuale Fußangel par Excellanze. Auf Seiten
des Strafverteidigers besteht -wie Tondorf beharrlich verdeutlicht- die dringende
Notwendigkeit, sich auf das Thema und das Terrain des Sachverständigen
einzulassen. Für einen jungen Strafverteidiger bedeutet dies zuallererst,
sich einzugestehen, dass er in seiner Juristenausbildung auf wichtige Teile
seines späteren Berufslebens nicht kompetent vorbereitet worden ist. In
diesen Fällen wie auch in vielen anderen wird es nicht sehr hilfreich sein,
Wissenslücken mit Arroganz und gesundem Selbstvertrauen zu überspielen.
Zumindest seine juristischen Berufskollegen wissen Wortlaut und Habitus sehr
wohl prägnant und mit Wirkung für die Zukunft entsprechend den erwiesenen
prozesstaktischen Fähigkeiten zielbewusst einzuordnen. Für ein besseres
Miteinander im Strafprozess, bei dem die Schuld- bzw. Prognoseproblematik ein
Thema ist, legt Tondorf mit seinem Buch einen unverzichtbaren Grundstein. Sein
Buch ist dabei nicht nur für junge Verteidiger interessant, sondern auch
für diejenigen Berufskollegen, die noch etwas hinzulernen wollen bzw. ihre
bisherige Praxis selbstkritisch zu reflektieren bereit sind. Aber auch junge
Strafrichter und Staatsanwälte, die in ihrem juristischen Studium nicht
minder schlecht auf ihre Berufspraxis vorbereitet worden sind, werden durch
die vorliegende Praxishilfe, die dieses Prädikat im Gegensatz zu manchen
gleich genannten juristischen Mogelpackungen vollends verdient, bestens auf
ihre ersten Prozesse mit Beteiligung forensischer Fachleute vorbereitet. Sie
müssen sich nur die Mühe machen, auf das Buch und die Gedanken des
Autors ihrerseits den einen o der anderen Gedanken zu verwenden und -soweit
erforderlich- einige ihrer Vorurteile und Fehlvorstellungen ad acta zu legen.
Auf aktueller Höhe der Rechtsprechung und einschlägiger Fachliteratur
hebt Tondorf bisweilen sogar zu unrecht verborgen gebliebene oder nahezu vergessene
Erkenntnisschätze, so dass die Lektüre seines Ratgebers unter Volljuristen
mit fachlichem wie auch privatem Interesse am Strafprozess allenthalben ein
Gewinn sein wird.