Rezensionen des Instituts für Verkehrsrecht und Verkehrsverhalten Bautzen

Schubert, Wolfgang/Schneider, Walter/Eisenmenger, Wolfgang/Stephan, Egon (Hrsg.)

Begutachtungs-Leitlinien zur Kraftfahreignung – Kommentar
Kirschbaum Verlag Bonn, 1. Auflage, Bonn 2003, 200 Seiten, DIN-A-4, kartoniert, 25,80 €
ISBN 3-7812-1525-3

Kaum ein Rechtsgebiet des Verkehrsrechts ist derzeit in der Rechtsauslegung umstrittener als das der Begutachtung der Kraftfahreignung mit ihren auf den ersten Blick wenig durchschaubaren Rechtsgrundlagen aus StVG, FeV (insbesondere deren Anlage 4), Begutachtungs-Leitlinien und einschlägiger Rechtsprechung. Zu dieser Einschätzung mag nicht zuletzt die Tatsache beizutragen, dass es bei dem Kampf um den juristischen Erhalt der Mobilitätserlaubnis (sprich: Fahrerlaubnis für das Führen von Kraftfahrzeugen) in einem hohen Maße auch um das Selbstwertgefühl der betroffenen Bürger geht. Bereits die absolute Anzahl von derzeit jährlich gut 112.000 abgeschlossenen medizinisch-psychologischen Begutachtungen spricht für die wachsende Bedeutung dieser fachlich komplexen Verfahren.
Immer dort, wo es in verkehrsrechtlichen Verfahren um derart existenzielle Bedürfnisse wie das der Erfüllung von Mobilitätswünschen geht, wird auf beiden Seiten mit allen zu Gebote stehenden juristischen Mitteln gekämpft und gerungen. Nicht immer stehen sich in diesem Kampf aber auch juristisch gleichwertig vertretene Kontrahenten gegenüber. Oft mangelt es an der einen oder der anderen Seite an notwendigem Hintergrundwissen bzw. an geeigneten Informationen zur objektiven Bewertung des gesamten Verfahrens.
Nur sehr wenig hilfreich sind, nebenbei bemerkt, gerade auf diesem von persönlichen Empfindungen stark beeinflussten Gebiet die gut verkauften so genannten „Testknacker-Handbücher“. Deren bereits im Ansatz verfehlte Aufgabe soll es sein, die Probanden professionell auf ihre MPU vorzubereiten. Gerade die oft unterschätzte, dabei aber immens wichtige Vorbereitungsphase auf eine MPU lebt von Ehrlichkeit, Transparenz und Vertrauen – allesamt Eigenschaften, die kein Buch allein geben kann. Dennoch werden diese zweifelhaften Ratgeber, nicht selten mangels professioneller Kenntnis der tatsächlichen Situation der Probanden, auch von zahlreichen Rechtsanwälten den betroffenen Mandanten zur Lektüre empfohlen – oft als einziges Hilfsmittel der Vorbereitung.
Aber auch die Mitarbeiter in den Fahrerlaubnisbehörden wissen oft nicht, welche Tragweite ihre Entscheidungen rund um die Begutachtung der Fahreignung für die einzelnen Betroffenen besitzen und vielen Sachbearbeitern fehlt einfach auch der fachliche Zugang zu dringend notwendigen Hintergrundinformationen, die in der Ausbildung des gehobenen Verwaltungsdienstes nicht vorkommen. Hinzu treten dann auch noch einschlägige Entscheidungen von Verwaltungsgerichten, die in toto mehr Verwirrung stiften, als Klarheit in das Dickicht der Fahreignungsbegutachtung bringen. Hier zeigt sich auf allen Seiten eine rechtliche und tatsächliche Unsicherheit, die vielen Beteiligten die getroffenen Entscheidungen von Behörden und Gerichten als willkürlich erscheinen lassen, so dass sachliche und fachlich kompetente Aufklärung als dringend erforderlich erscheint. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um Transparenz von Entscheidungsprozessen.
Mit ähnlichen Überlegungen hängt sicherlich auch die Entstehung des vorliegenden Kommentars zusammen, dessen Aufgabe es laut Aussage der Herausgeber in ihrem Vorwort (S. 7) ist, „zur Verbesserung der Nachvollziehbarkeit und Nachprüfbarkeit von Begutachtungsprozessen für die Betroffenen, die Entscheidungsträger und die Politik“ beizutragen. Die beiden Mitherausgeber Schubert und Stephan waren als Mitglieder des paritätischen Ausschusses des gemeinsamen Beirats für Verkehrsmedizin beim Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen sowie des Bundesministeriums für Gesundheit schon an der Entstehung der hier kommentierten Begutachtungs-Leitlinien zur Kraftfahreignung aktiv beteiligt. Bereits aus diesem Grund wissen sie, wovon sie schreiben. Aber bringt ihr Werk seinen Lesern auch Erkenntnisgewinn?
Leitlinien haben weder den verbindlichen Rang von Gesetzen und Verordnungen, noch sind sie in ihrer Bedeutung mit behördeninternen Verwaltungsvorschriften vollends vergleichbar. Die allgemeine Aufgabe von Leitlinien – wie auch für die dem Kommentar zu Grunde liegenden Leitlinien für die Fahreignungsbegutachtung – liegt darin, als gemeinsam vereinbarte fachliche Basis für eine bundesweit möglichst einheitliche Beurteilungspraxis zu dienen. Sind jedoch die von besonders qualifizierten Fachleuten vereinbarten Leitlinien später in ihrer tatsächlichen Anwendung zu hinterfragen, bedarf es für die Rechtsanwender eines hilfreichen Erläuterungswerkes, das die medizinischen und psychologischen Fachtermini und Fachzusammenhänge auch für den Rechtsanwender (Rechtsanwalt, Verwaltungsrichter, Behördenmitarbeiter) verständlich werden lässt.
Das Autorenverzeichnis des Werkes (S. 199 f.) zählt dazu nicht weniger als 28 Fachleute aus den Gebieten Verkehrsmedizin, Verkehrspsychologie und Jurisprudenz auf. Diese Tatsache verrät das Konzept, in der Kommentierung fachlich in die Tiefe zu gehen, birgt aber für die Leser immer auch die potenzielle Gefahr, nur wenig Licht in das Dunkel der fachwissenschaftlichen Betrachtungen zu bringen. Dass auf dem hier eingeschlagenen Weg der spezifischen Fachkommentierung durch Spezialisten die Überschaubarkeit und der Zugang zu den einzelnen Inhalten nicht verloren geht, ist ein Verdienst der sorgfältigen Redaktion des Kommentars, die in den fachlich vielseitig bewanderten Händen von Wolfgang Schubert und Walter Schneider lag. Ihnen ist es gemeinsam mit ihren Mitherausgebern und Fachautoren gelungen, die vielschichtigen Verquickungen aus Medizin, Psychologie und Recht aufzudröseln und auch für die Leser aus den jeweils anderen Disziplinen verständlich darzustellen. Dabei wird an vielerlei Orten das gemeinsame Credo des Kommentars deutlich, die Begutachtung als Chance zum möglichst langen Erhalt der Mobilität und damit als insgesamt faires Verfahren zu betrachten (z. B. S. 22). Gerade dieser zweite Aspekt ist wichtig; denn nicht zu unrecht wird von anwaltlicher Seite oft beklagt, dass das Verfahren bereits von seiner Anlage her (die Anordnung zur Beibringung eines Gutachtens wird von der h. M. nach wie vor nicht als Verwaltungsakt bewertet) wenig transparent und damit für die Probanden nahezu undurchschaubar ist.
Exemplarisch deutlich wird die Wertigkeit der Kommentierung an dem derzeit wohl am meisten diskutierten Teilproblem der Begutachtung von Drogenkonsumenten im Kapitel 3.12 (S. 108 ff.). Hier wird von den vier Autoren dieses Parts einfühlsam die komplexe Tatsachen- und Rechtslage erläutert und die Hintergründe um die komplizierte Begutachtung dieser Probandengruppe im Lichte ihres Konsums der betreffenden illegalen Drogen auch für den Laien verständlich dargestellt. An diesem Kapitel wird auch der verdienstvolle Ansatz deutlich, dem besonders interessierten Leser ein aktuelles Verzeichnis mit vertiefender Literatur zum jeweiligen Textteil anzubieten. Auf diese Weise wird die Kommentierung auch für die verkehrswissenschaftliche Forschung etwa auf den Ebenen von Diplom, Bachelor und Master interessant.
Mit dieser vielschichtigen Kommentierung wird eindeutig Licht ins Dunkel der Begutachtungsgrundlagen gebracht, wenn auch verständlicherweise nicht alle Zweifelsfragen bereits in einer Erstauflage geklärt werden können. Ob jedoch die veritablen Hinweise auf den Sinn und Zweck des Verfahrens neben den praxisnahen Handreichungen für die tägliche Arbeit auch de facto von allen Gutachtern 1:1 in ihrer Begutachtungspraxis umgesetzt werden, vermag auch ein so gelungener Kommentar wie der vorliegende nicht zu garantieren. Wohl aber will er als Richtschnur für eine professionelle Kontrolle vorliegender Begutachtungsergebnisse dienen und wird – ohne Prophet sein zu wollen – in nicht wenigen Fällen qua Rechtsbehelfs- oder Klageverfahren zu notwendigen Korrekturen an so oder so unbefriedigenden Ergebnissen führen.
Dieser neue und bis dato einzige Kommentar zu den Begutachtungs-Leitlinien zur Kraftfahreignung wird ohne Zweifel als neues Standardwerk dieses Rechtsgebietes dienen und dürfte daher für alle in diesem Fachgebiet tätigen Gutachter und Rechtsanwender ein unentbehrliches Handwerkszeug werden.
Prof. Dr. jur. Dieter Müller, IVV Bautzen